Killer der Globalisierung
Wie die Pandemie unser Leben auf den Kopf stellt

Die Pandemie beschleunigt den Strukturwandel in der Schweizer Wirtschaft. Das hat auch gesellschaftliche Folgen. SonntagsBlick macht sich mit einem Wirtschaftshistoriker und einem Psychologen auf Spurensuche.
Publiziert: 19.09.2020 um 23:36 Uhr
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Aktualisiert: 20.09.2020 um 08:55 Uhr
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Die Art und Weise wie wir heute konsumieren, wirtschaften und arbeiten, wurde in den letzten Monaten auf den Kopf gestellt. Die Anomalie wurde zur Normalität. Der Taktgeber: das Coronavirus. Einigen Betrieben hat das Virus bereits den Garaus gemacht, andere müssen weit mehr als nur eine leichte konjunkturelle 
Delle ausbeulen.
Foto: Keystone
Sven Zaugg

Das Restaurant um die Ecke? Es bleibt für immer geschlossen. Der kleine Dorfladen? Die Miete war zu hoch. Der Musikclub? Es gibt ihn nicht mehr. Das Reise­büro? Alle Angestellten wurden entlassen. Homeoffice? Normalität.

Die Art und Weise, wie wir heute konsumieren, wirtschaften und arbeiten, wurde in den letzten Monaten auf den Kopf gestellt. Die Anomalie wurde zur Normalität. Der Taktgeber: das Coronavirus. Einigen Betrieben hat das Virus bereits den Garaus gemacht, andere müssen weit mehr als nur eine leichte konjunkturelle Delle ausbeulen.

Branchen wie der Detailhandel und der Tourismus – besonders in den Städten – waren und sind gezwungen, sich komplett neu zu erfinden. Liefer­ketten von Pharma und Industrie werden so weit wie möglich nationalisiert. Die Abhängigkeit vom Ausland birgt dieser Tage unkalkulierbare Risiken, die sich viele Unternehmen nicht mehr leisten wollen.

Die Welt hat sich verändert

Es sind solche Beispiele, die zeigen: Nach der Pandemie wird unsere Welt nicht mehr so sein, wie sie einst war. Denn ­Viren wie Sars-CoV-2 mu­tieren zu Killern der Globalisierung. Nationalisten und Egoisten haben Oberwasser. Abschottung feiert Hochkonjunktur. Die Weltwirtschaft zersplittert.

«Die liberale Weltordnung, das gemeinsame Wirtschaften erodiert», sagt der renommierte deutsche Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe (65) im Gespräch mit SonntagsBlick. Ein Zeitgeist, der sich in den Verlautbarungen Donald Trumps manifestiert. Der noch amtierende US-Präsident fordert von allen Staaten die Rückbesinnung auf nationale Interessen und erteilt multilateralen Absprachen eine Absage. «Die Zukunft gehört nicht den Globalisten, die Zukunft gehört den Pat­rioten», glaubt Trump.

Kommt hinzu: Die derzeitigen Entlassungen – die Pandemie hat allein in der Schweiz bislang über 6000 Stellen vernichtet – und Betriebsschliessungen sind die Boten eines absehbaren Strukturwandels, der durch das Virus beschleunigt wurde. Während Online-Händler und Lieferdienste wie Brack.ch und Eat.ch ob Monster­umsätzen jubilieren, darbt der stationäre Handel, plagen die wenigen Gäste die Wirte. Ein Klagelied, das so lange gesungen wird, bis sich die Menschen wieder sicher fühlen. Doch eine Rückkehr zur Normalität ist ungewiss.

Die Zukunft kam schneller, als vielen Be­trieben lieb ist, das hat die Krise deutlich gezeigt. «Die Pandemie hat etlichen Branchen keine Zeit gelassen, sich auf den Strukturwandel vorzubereiten», sagt Plumpe. «Die weltweiten Lockdowns haben zu einem enormen Digitali­sierungsschub geführt. Viele Unternehmen waren schlicht überfordert.»

Verzweifelte Unternehmen

Die Geschäfte standen still. Einnahmen blieben aus. Für die Unternehmen bedeutet das eine enorme Verknappung der finanziellen Mittel, die sie eigentlich benötigten, um sich zu modernisieren. Weil dies vor der Krise nur zu Teilen geschehen und gleich­zeitig der Konsum eingebrochen ist, suchen die Unternehmen verzweifelt nach Einsparungen. Fündig werden sie meist bei den Lohnkosten, bei Entlassungen oder – im besten Fall – bei der Digitalisierung von Prozessen.

Welche Optionen aber bleiben der Flugbegleiterin, die soeben ihren Job verloren hat? Vielleicht heuert sie beim Lieferdienst Uber Eats an. Und begibt sich damit schnurstracks in ein prekäres Arbeitsverhältnis. Denn wer beim US-Multi Aufträge ablehnt, wird schlechter bewertet, bekommt weniger Aufträge und letztlich weniger Geld. Zusätzlich sind die sogenannten Gigworker nicht von den Auftraggebern versichert, müssen ihre Velos oder Laptops selbst bereitstellen und berappen. Die Unternehmen lagern die Risiken aus. Ein Megatrend.

«Gigworker» leitet sich übrigens vom englischen Wort «gig» ab, also dem Auftritt eines Künstlers. Von Gig-Ökonomie zu sprechen, wenn es um ­prekäre Arbeitsverhältnisse geht, verrät die zynische Grundhaltung, die dahintersteckt.

Plattformen profitieren, Menschen leiden

In diesem System gibt es nur zwei Gewinner: die Kunden, weil sie von günstigen Preisen profitieren, und die Plattform, die ihren Pflichten als Arbeit­geber nicht nachkommt und damit die Sozialpartnerschaft mit Füssen tritt. Die Krise zeigt: Für Menschen mit schlechter Bildung hält die Zukunft vor allem mies bezahlte Arbeit ohne Sicherheiten parat.

Die Folge: Armut. «Aus wirtschaftshistorischer Sicht die grösste Bedrohung für die Gesellschaft», sagt Plumpe. «Die neue Welt braucht vor allem solide Bildung für alle Schichten, damit die Menschen partizipieren können.» Daran beissen sich so manche Länder die Zähne aus. Gerade für Migranten haben die wohlhabenden Nationen noch immer keine Bildungskonzepte entwickelt, die diesen Namen auch verdienen.

Der Zürcher Sozial- und Wirtschaftspsycho­loge Christian Fichter (49) sieht gleichwohl auch Lichtblicke. Die Gesellschaft in der Schweiz habe sich dematerialisiert. ­«Familie, Freundschaft, ja Erlebnisse sind heute wichtiger als noch vor der Krise», sagt er. Es sei ein Bewusstsein dafür entstanden, was wirklich wichtig im Leben sei. «Nämlich nicht nur die ­Akkumulation von Kapital, sondern vielmehr mentale Gesundheit.»

Zu diesen Lichtblicken jedoch gesellen sich auch dunkle Seiten. Laut Fichter nimmt die «affektive Polarisierung» zu. Das heisst auf Deutsch: «Es ist egal, was ich sage, viel wichtiger ist heute, zu welcher Gruppe ich gehöre.» Schwarz oder weiss. Für oder gegen die Entscheidungen des Bundesrats. Ein Dialog sei damit kaum mehr möglich, fürchtet er.

Was bleibt? «Die Gewissheit, dass wir Menschen widrigsten Umständen trotzen können», sagt Christian Fichter. «Eine ­Fähigkeit, die wir in Zukunft wohl noch mehr bemühen müssen.»

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