Die Stimmung ist angespannt in dieser Sommernacht am 11. August 1957. Vor dem Bahnhof Zürich-Enge haben sich zwei- bis vierhundert zornige Bürger versammelt. Sie wollen den «Moskaupilgern» einen passenden Empfang bereiten. So nennt die Presse die jungen Leute, die an die Weltjugendspiele in der UdSSR gereist waren, einem internationalen Grossanlass mit sozialistischem Hintergrund.
Bei den Schweizer Teilnehmern handelt es sich um rund 290 Arbeiter und Studenten aus allen Landesteilen. Mit einer Stunde Verspätung, nach halb zwölf, trifft der Zug mit ein paar Dutzend Rückkehrern ein.
Es kommt zu ersten Rangeleien, als sich die Menge auf Einzelne stürzt, die abzuschleichen versuchen. Gedroschen wird mit Fäusten, Knebeln und Regenschirmen. Dann passiert das, was zur Eskalation der Lage führt: Einer der Russlandbesucher reisst einem Demonstranten ein Protestschild herunter.
Ob diese Tätlichkeit in dieser Situation nun kühn, dumm oder gar erfunden ist, spielt keine Rolle mehr: Der Mob verliert jede Hemmung und beginnt, begleitet von derben Rufen, mit seiner Jagd auf die Ankömmlinge. «Schlönd die Sauchaibe z’tod!», soll laut der roten Postille «Vorwärts» geschrien worden sein.
Koffer heruntergerissen, Kleider verbrannt
Die «Landesverräter» werden aus den Waggons gezogen und verprügelt. Ihre Koffer aufgerissen und die Kleider verbrannt. Selbst von einer Scheinhinrichtung wird berichtet: Eine junge Frau soll bis kurz vor Abfahrt der Bahn auf die Geleise gedrückt worden sein.
Viele trauen sich nicht, auszusteigen, verstecken sich im Zug und fahren aus Angst lieber weiter nach Brugg AG. Der Lokführer verlangt für den nächsten Halt Polizeischutz für die Passagiere.
Am Bahnhof Enge bleibt nach jener Nacht ein Bild der Zerstörung: verstreute und verkohlte Reste von Gepäckstücken, Scherben, Blut. Der 23-jährige Arbeiter Fritz Huber fuhr nicht nach Moskau; am Bahnhof Enge hat er nur seine Freunde abholen wollen. Er muss wegen einer Schädelverletzung und einer Wunde in der Leistengegend behandelt werden, die später vereitert.
Der Vorfall hat sich am 11. August 1957 zugetragen. In seiner offen ausgetragenen und öffentlich geduldeten Brutalität passt er so gar nicht ins Bild der friedlichen Schweiz. Der 32-jährige Journalist und Soziologiestudent Rafael Lutz beschreibt das Ereignis in einem Buch detailgetreu – und ja, aus einer linken Perspektive. Er stützt sich auf die damaligen Medienberichte, auf Behördenquellen, auf Polizeiberichte und auf Aussagen von Zeitzeugen. Und geht der Frage nach: Wie konnte es so weit kommen?
Radikaler Antikommunismus
Die Schweiz befand sich mitten im Kalten Krieg. In den USA herrschte der von Joseph McCarthy geprägte radikale Antikommunismus. Und ein Jahr zuvor, 1956, schlugen die Sowjets den ungarischen Volksaufstand blutig nieder.
Dieses Ereignis schockierte die Schweiz und politisierte eine ganze Generation bis weit ins sozialdemokratische Milieu hinein. Für weite Teile der Gesellschaft muss die Teilnahme von Schweizer Bürgern in Moskau eine ungeheure Provokation gewesen sein, zumal davon ausgegangen werden konnte, dass die Sowjetführung den Anlass mit 30'000 Gästen zu Propagandazwecken ausschlachtet, was denn auch eingetroffen ist.
Auf dem Schild des Demonstranten, das der junge «Moskaupilger» in Zürich-Enge fatalerweise heruntergrissen haben soll, stand: «Vergesst Ungarn nie!»
Mit dem osteuropäischen Volk solidarisierte sich 1956 auch eine damals 29-jährige Jusstudentin. Ihr Name: Elisabeth Iklé. Später wird sie Kopp heissen und als erste Bundesrätin in die Geschichte eingehen. Iklé engagiert sich – neben anderen Prominenten wie dem SP-Gewerkschafter Walter Renschler – in der studentischen Direkthilfe Schweiz-Ungarn (SDSU).
Die Organisation weibelte an vorderster Front für die Kundgebung in Zürich Enge. Und selbstverständlich war Iklé beziehungsweise Kopp in jener Nacht mit dabei auf der Seite der Demonstranten, wie das Buch dokumentiert.
Es ist unklar, wie sehr die spätere FDP-Politikerin im Vorfeld selber einheizte – gehörte sie innerhalb der Direkthilfe zu den Tauben oder zu den Falken?
Mit der Nazi-Keule gegen Sozialisten
Fest steht, wer im Vorfeld am meisten Öl ins Feuer goss: die frei sinnige «NZZ». Für die Eskalation am 11. August leistete die bürgerliche Presse tüchtig Vorarbeit. Die «Neue Zürcher Zeitung» verstieg sich zu einer Kaskade von Artikeln, in denen die Teilnehmer pauschal als «PdAler und Kommunisten» gebrandmarkt wurden. Zur Kampagne gegen die Demonstranten gehörte, natürlich, auch die Nazi-Keule. So wurde der Begriff einer «PdA-Schutzstaffel» repetiert, welche die Jungen angeblich eskortierte.
Der Psychiater Berthold Rothschild, der 1957 auf der Seite der Demonstranten stand, spricht im Buch von einer «Pogrom-Stimmung». Er übernimmt damit einen Opferbegriff, den die Kommunisten selber verwendeten.
Der glühendste Einheizer an der Falkenstrasse war Inlandredaktor Ernst Bieri. Im Vorjahr hatte er, als Reaktion auf den Ungarn-Aufstand, die Wohnadresse des bekannten Kommunisten Konrad Farner in Thalwil ZH publik gemacht. Selbstverständlich war Bieri am 11. August selber vor Ort.
Auch im Nachgang zeigten die Journalisten wenig Empathie mit den «Moskauwallfahrern». Die «NZZ» erklärte den «negativen Empfang» zur Folge der «Provokationen» der PdA und ihrer «Schutzstaffel». Die «Luzerner Neuesten Nachrichten» meinten zur Hatz auf den Plakat-Herunterreisser, «nach alter Väter Sitte» sei dieser «tüchtig verdroschen» worden.
Der Kalte Krieg ist vorbei. Die Sowjetunion ist Geschichte. Gräben durchtrennen indes noch heute die Gesellschaft, auch wenn sie ganz anders verlaufen. Gegenüber Buchautor Lutz behauptet Elisabeth Kopp, dass es sich 1957 um eine friedliche Demonstration handelte.
Sie habe lediglich «einzelne Buhrufe» vernommen.