Samstag, 28. September, kurz vor Mittag. Es ist der vorletzte Tag der Hochjagd in Vicosoprano GR. Eine Gruppe Jäger treibt Hirsche aus dem Unterholz dem Fluss entlang. Eine Hirschkuh springt in Richtung Fussball-Platz. In der Schusslinie trainiert die Junioren-Mannschaft des AC Bregaglia. Es knallt. Der Jäger verfehlt das Wild. Die Kugel bohrt sich in den Rasen. Schock auf dem Spielfeld! Wie leicht hätte sie eines der Kinder treffen können? Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft.
Der Vorfall im Bergell ist weder ein Einzelfall noch etwas Besonderes. Zunehmend gehen Jäger nahe von oder gar in Ortschaften auf die Pirsch. Grund: Sie folgen dem Wild, das immer häufiger die Nähe von Siedlungen sucht. Das ist nicht nur ein Risiko für Hirsch, Reh oder Wildsau.
Tödlicher Jagdunfall nahe Töff-Event
So erlegte ein Bündner in der Innenstadt von Chur GR vorige Woche zwei Rehe vom Trottoir aus. In Cabbio TI löst sich bei einem Jäger kürzlich ein Schuss, mit dem er die Hand seines Kollegen trifft. Schon Ende Januar hatte ein Jäger im Aargau drei zahme Wollschweine für Bachen gehalten und abgeknallt. Der wohl tragischste Jagdunfall des Jahres passierte an einem Samstag Mitte September zur Mittagszeit.
Ein Jäger (50) hält seinen besten Freund (51) für ein Wildschwein und erschiesst ihn (BLICK berichtete). Das ereignet sich in einem Hangwaldstück bei Chiasso TI, wo Familien am Wochenende gern Pilze sammeln, Freizeitsportler joggen oder Herrchen und Frauchen ihre Hunde ausführen. Sogar ein Töff-Event ist zu dem Zeitpunkt nur wenige hundert Meter vom Unglücksort entfernt in vollem Gang.
«Bürger sollten sich nicht bedroht fühlen»
«Das geht überhaupt nicht», sagt Francesco Maggi (58), Leiter der Tessiner Sektion des WWFs. «Jäger haben in Erholungs- oder Wohngebieten nichts zu suchen. Sie sind viel zu gefährlich.» Bürger sollten sich nicht bedroht fühlen müssen.
Sogar Fabio Regazzi (57), Vize-Präsident des Dachverbandes JagdSchweiz und Präsident der Tessiner Jägervereinigung, geht die Unachtsamkeit einzelner Jäger zu weit. «Man muss realistisch sein. Die Jagd ist riskant. Schliesslich sind da Waffen im Spiel. Solche Unfälle passieren, wenn auch selten», sagt der Tessiner CVP-Nationalrat. Man müsse aber gewisse Jagdgebiete prüfen und vielleicht tageweise fürs Publikum absperren. Jäger könnten zudem besser ausgebildet und mit Tageskursen sensibilisiert werden. «Da gibt es sicherlich noch Handlungsbedarf», sagt Regazzi.
Landwirte kämpfen mit Wild-Schäden
Dankbar für den Einsatz der Jäger sind Landwirte. «Viele Bauern kämpfen mit den Schäden, die Wildschweine, Hirsche und Rehe in der Landwirtschaft anrichten», sagt Sem Genini (43) vom Tessiner Bauernverband UCT.
Dass die Jagd nicht nur für die Gejagten tödlich sein kann, zeigt diese Meldung aus dem Wallis: Am frühen Montagmorgen, zirka um sechs Uhr früh, stürzt ein Jäger bei Blatten-Naters 200 Meter tief in eine Schlucht. Sein Begleiter alarmiert die Air Zermatt. Für den 60-Jährigen kommt jedoch jede Hilfe zu spät. Er stirbt vor Ort. Auf der Pirsch.