Markus Schley (58) stoppt. Auf dem Trottoir entlang der Elisabethenstrasse in Basel kommen unvermittelt zwei Stufen. «Wäre ich nicht von hier, wüsste ich schon nicht mehr weiter», sagt er. Denn Schley ist MS-Patient, sitzt im Rollstuhl. Er zeigt Blick bei einer Fahrt durch seine Stadt, an welchen Hindernissen Menschen mit Beeinträchtigungen auch im Jahr 2022 immer noch scheitern.
In der renovierten Freien Strasse zum Beispiel gibt es zahlreiche Läden, die Stufen davor haben. «In viele käme ich nicht rein, wenn mich etwas im Schaufenster interessieren würde», sagt Schley. Mit seiner Krankheit könnte er zwar kurz aufstehen und wenige Stufen überwinden, während Mitarbeiter den Rollstuhl hineintragen. «Aber es gibt Behinderte mit bis zu 180 Kilogramm schweren Rollstühlen. Da ist ‹schnell lüpfe› auch mit gutem Willen und Helfern nicht möglich.»
Auch in die Basler Trams kann er nur in jedes zweite allein einsteigen. «Es kam schon vor, dass ich eine halbe Stunde an der Haltestelle wartete, weil drei alte Trams hintereinander kamen.» In seiner Stadt habe er Routinen entwickelt und Umwege gefunden. «Aber einem fremden Ort trifft man auf zahlreiche Hindernisse, die man noch nicht kennt», so Schley.
Wenn der PET-Flaschen-Einwurf zum Problem wird
Aber es sind nicht nur die Stufen. Auch Kopfsteinpflaster, zu enge Regale oder schwere Schwingtüren können zum Problem werden. Zudem sind für Schley viele Dinge zu hoch: Bankomaten, Ladentheken, Briefkästen, Klingeln, PET-Sammelstellen, ja sogar Marktstände: Rollstuhlfahrer gehen oft vergessen.
Wenn er Hindernisse sehe, mache er die Betreiber darauf aufmerksam – oder verbreitet es auf Facebook. Auch beim Basler Behindertenforum wirkt er mit. «Ich reagiere meistens umgehend, wenn ich Mängel sehe», so Schley.
Keine Klingel am Lift, Schalter zu hoch
Auch Vanessa Grand (43), Schlagersängerin aus Leuk VS prangert Missstände an. Sie hat die Glasknochenkrankheit, sitzt im Rollstuhl.
Kürzlich testete sie spontan den Neubau eines Passbüros in Visp auf seine Zugänglichkeit. «Was ich dort erlebte, war skandalös», erzählt Grand. Obwohl das Gesetz es vorschreibt, wurden Behinderte beim Bau komplett vergessen. Ein Treppenlift habe man erst einen Monat nach Eröffnung eingebaut. «Als ich dort war, gab es ihn bereits – aber keine Klingel, um die Angestellten zu rufen, die ihn bedienen.» Auch im Gebäude war es nicht besser. Der Kundenschalter war auf 1,20 Metern angebracht. «Ich verschwand darunter!», sagt Grand.
Noch zahlreiche weitere Mängel fanden sie. «Ich schaltete darum Procap ein, eine Organisation, die im Wallis bei Neubauten beigezogen werden muss – aber in diesem Fall übergangen wurde.» Über das Passbüro und die vergessene Barrierefreiheit darin berichteten wegen Grand schliesslich diverse Medien. Aber Grand sagt: «Man hasst mich deswegen, schliesst mich nach Aufdecken des Skandals sogar aus. Denn wenn man sagt, was nicht geht, eckt man an.»
«Wenn Verantwortliche es wollen, ist viel möglich»
Etwas ändern will auch Joe A. Manser (68). Der Zürcher Architekt und Gemeinderat ist seit einer Kinderlähmung auf den Rollstuhl angewiesen und hat sich auf hindernisfreies Bauen spezialisiert.
Das Anliegen sei ein Top-Down-Thema: «Wenn diejenigen, die oben sitzen, es wollen, dann ist viel zu machen.» Deshalb sei Zürich beim öffentlichen Verkehr zum Beispiel der Stadt Basel zehn Jahre voraus. «Ich habe schon 1989 meinen ersten Vorstoss im Zürcher Gemeinderat eingereicht. In Basel haben sie erst viel später mit dem Haltestellen-Umbau und der Beschaffung neuer Trams begonnen, weil sich Verantwortliche sträubten und die Lobby fehlte.»
Als Joe Manser begann, als Architekt zu arbeiten, habe er schnell gemerkt, dass viele Mängel einfach zu beseitigen wären. «Bei einem Neubau fallen nicht einmal zusätzliche Kosten an.» Um sein Fachwissen weiterzugeben, war er Mitgründer der Schweizer Fachstelle für hindernisfrei Architektur.
Allgemein sagt er über Hürden: «Ein paar wenige Zentimeter sind für die Bauherren nur Kleinigkeiten. Für uns im Rollstuhl spielen sie aber eine grosse Rolle. Sie entscheiden darüber, ob wir ein Verkehrsmittel oder Gebäude betreten können oder nicht. Für uns ist das dann absolut.»
«Behinderten stinkt es»
Er betont, dass es aber nicht selbstverständlich sei, dass Leute wie Schley in Basel und Grand in Visp den Finger auf Wunden legen. «Vielen Behinderten stinkt es, dass sie der Grund für Unannehmlichkeiten sind. Sie meiden gewisse Restaurants oder tun keine spontanen Dinge mehr. Oder man wartet halt eine halbe Stunde auf das richtige Tram, ohne sich zu beschweren. So wächst die Gefahr, dass die Verantwortlichen finden, es muss nichts mehr getan werden.»
Auch wenn alle drei sagen, dass sie sich auf alle Ausflüge stets vorbereiten, finden alle, dass heute eine gewisse Spontanität dennoch möglich sei.
Manser: «Es ist wie Tag und Nacht im Vergleich zu den 80er-Jahren. Vieles hat sich verbessert. Früher musste ich davon ausgehen, dass ich nirgends aufs WC kann. Heute kann ich selbständig aus dem Haus, kann den öffentlichen Verkehr nutzen und komme in jedes neu gebaute, für die Öffentlichkeit zugängliche Gebäude. Aber es ginge noch mehr, zum Beispiel bei alten Bauten.»