Das Steinadlerweibchen nimmt einen grossen Satz und flattert in die gegenüberliegende Ecke der Voliere, als Andi Lischke (56) ihm eine Schale mit frischem Fleisch bringt. «Sie hat noch immer Angst, wenn ich ins Gehege komme», sagt der Leiter der Greifvogelstation Berg am Irchel ZH. «Die wird sie auch nie verlieren. Das ist bei fast allen Tieren so, die in der Wildnis aufgewachsen sind.»
Dann strahlt er. «Es geht dem Adlerweibchen den Umständen entsprechend gut. Sie setzt jetzt schon die Flügel ein. Das ist ein gutes Zeichen.» Vor sieben Wochen verunfallte der gut einjährige Jungvogel in Laax GR und verletzte sich schwer. Er hatte einen gebrochenen Flügel. In einer fünfstündigen Operation fixierten die Ärzte im Tierspital Zürich den Flügel. Danach kam das Tier zu Lischke in die Vogelstation.
Wer es nicht schafft, müssen wir einschläfern
«Wir tun alles Menschenmögliche, um die Vögel zu heilen, unabhängig von der Seltenheit des Tieres oder den Kosten. Wer wieder fit wird für die Wildnis, den lassen wir frei. Wer es nicht schafft, den müssen wir einschläfern», sagt der Biologe und langjähriger Tierpfleger. «Wenn ein in der Natur aufgewachsener Greifvogel nicht mehr fliegen kann, hat er kein würdiges Leben mehr. Ihn in Gefangenschaft durchzufüttern, wäre Tierquälerei.»
Ennet dem Röstigraben wird diese Regel angezweifelt. Ludovic Bourqui, Gründer und Leiter der Auffangstation für Greifvögel in Bardonnex GE, hat angeboten, das Steinadlerweibchen aufzunehmen. Ganz gleich, ob es fliegen kann oder nicht. «Auch das Leben von einem behinderten Vogel kann ein schönes Leben sein», sagt Bourqui dem «Le Matin Dimanche».
«Das wäre Tierquälerei!»
Andi Lischke lehnt das Angebot ab: «Es ist einerseits meine Meinung, dass das Tierquälerei auf hoher Ebene wäre. Andererseits ist das sogar illegal. Das Naturschutzgesetz erlaubt keine Haltung von Tieren, die in der Natur aufgewachsen sind.»
Zum Glück macht der Steinadler in Berg am Irchel grosse Fortschritte. Der gebrochene Flügel ist wieder zusammengewachsen. Dank Dehnübungen kann das Tier auch den Flügel wieder fast normal öffnen und macht bereits erste Hüpfer mit Flügelunterstützung.
Zu viel will der Biologe aber nicht versprechen. «Etwa vor einem Jahr mussten wir einen Adler einschläfern, der auch auf gutem Weg der Heilung war. Dann ist eine Naht aufgeplatzt und das Gewebe starb ab.»
Es tut auch mir weh, ein Tier einzuschläfern
Er kann die Menschen verstehen, die ein krankes Tier leben lassen wollen. «Es tut auch mir weh, ein Tier einzuschläfern, es ist wie eine persönliche Niederlage», sagt Lischke. «Aber ein Wildvogel leidet nur noch in Gefangenschaft. Er hat panische Angst vor Menschen und wird diese auch nie verlieren.»