Ritalin-Wahnsinn im Chindsgi
Jetzt werden schon die Kleinsten ruhig gestellt

In der Schweiz müssen bis zu 80 Kleinkinder Ritalin schlucken – dabei ist das ruhigstellende Medikament für sie gar nicht zugelassen.
Publiziert: 27.07.2015 um 23:54 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 23:31 Uhr
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Normaler Wutausbruch oder krankhafte Störung? Mit brüllenden Kindern sind Eltern oft überfordert – und suchen sich professionelle Hilfe.
Foto: BSIP
Von Carmen Schirm-Gasser

Wenn ein Junge oder ein Mädchen im Chindsgi oder in der Schule zappelt, nicht aufpasst und die Lehrer zur Weissglut treibt, ist der Verdacht oft schnell geäussert: Das Kind leidet wohl an einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS (siehe Box). Und sehr schnell ist in solchen Fällen das Gegenmittel Nr. 1. zur Hand: Ritalin. Ein umstrittenes Medikament, das Kinder ruhigstellt.

Letztes Jahr warnte die US-Gesundheitsbehörde, dass in den USA bereits 10'000 Zwei- und Dreijährige wegen ADHS das Psychopharmakon schlucken. Dabei ist es für Kinder unter sechs Jahren gar nicht zugelassen – die Neben- und Langzeitwirkungen für diese Altersgruppe sind kaum erforscht.

Doch auch in der Schweiz werden schon Kleinkinder damit ruhiggestellt. Genaue Zahlen sind schwer zu eruieren. Klare Fakten gibt es dennoch:

Zwischen 2001 und 2014 bezahlte die IV pro Jahr bis zu 36 Kindern im Alter von null bis vier Jahren medizinische Behandlungen aufgrund von frühkindlichem ADHS. 28 Mal seit 2001 wurde ADHS bei Ein- und Zweijährigen diagnostiziert. Selbst sieben Babys tauchen in der IV-Statistik auf. Es seien «sehr schwierige, seltene Fälle», sagt Harald Sohns (51) vom Bundesamt für Sozialversicherungen. Die IV-Statistik erfasst die genauen medizinischen Massnahmen zwar nicht; dass Ritalin dazugehört, liegt aber auf der Hand. «In der Deutschschweiz werden eher Gesprächstherapien und Medikamente angewendet», sagt Sohns. «In der Romandie eher langjährige Psychoanalysen.»

Noch deutlicher wird eine Studie des Bundesamts für Gesundheit (BAG). 2012 wurden die Ritalin-Zahlen dreier grosser Krankenkassen ausgewertet, die zusammen etwa 22 Prozent der Versicherten der Schweiz abdecken. Ergebnis: Zwischen 2005 und 2008 schluckten 36 Jungen und Mädchen im Alter von null bis fünf Jahren Ritalin. Auf die Schweiz hochgerechnet ergibt dies rund 80 Klein- und Chindsgi-Kinder im Jahr, die damit ruhiggestellt werden.

Der Kinderpsychiater und Buchautor Helmut Bonney (68) aus Liestal bestätigt: «Ich sehe in meiner Praxis regelmässig Kleinkinder, denen Produkte mit Methylphenidat verabreicht werden.» Das sei besorgniserregend. Die Gehirnentwicklung bei so jungen Menschen werde dadurch beeinträchtigt, die Diagnose erfolge oft schnell.

«Ich kenne mehrere Kinderärzte in Bern, die innert einer halben Stunde ADHS feststellen und Ritalin verschreiben», sagt Kindheitssoziologe Pascal Rudin (35), der Familien mit ADHS-Kindern unterstützt. «Funktioniert das Kind noch immer nicht, genügt ein Anruf – und die Dosis wird erhöht.» Auch Rudin kennt Dreijährige, die das Medikament nehmen müssen. Ein Kita-Gruppen-Leiter aus der Region Bern, der ungenannt bleiben möchte, betreute eine Gruppe von ADHS-Kindern zwischen drei und fünf Jahren. Die sieben Knirpse waren allesamt aus Kitas und Kindergärten geflogen, obwohl sie Ritalin verabreicht bekamen.

Die ganze Familie leidet

Der Leidensdruck der Betroffenen ist gross. Kaum eine Familie will darüber reden. Zu gross die Scham, das vermeintliche Versagen, die Überforderung.

Oft versagen auch die Spezialisten und die Behörden. Wie im Fall von Jan*. Zwei Monate nach Schulbeginn 2008 forderte die junge Klassenlehrerin die Eltern auf, Jan Ritalin zu geben. Sonst fliege er wohl bald von der Schule.

Die Eltern geben nach. «Zu Beginn besserte sich sein Verhalten», erzählt die Mutter (46). Doch nach kurzer Zeit ist alles beim Alten. Jan ist wieder jähzornig, aggressiv und hyperaktiv. Die Ärzte erhöhen die Dosis. «Jan wurde regelrecht mit Ritalin abgefüllt.» Trotzdem fliegt er von der Schule, muss in eine Schule für verhaltensauffällige Kinder. Neben Ritalin bekommt er zusätzliche Psychopharmaka. Medikamente und Psychiater wechseln ständig, doch alles versagt. Der Schulpsychologische Dienst will Jan in ein Heim stecken. Gegen den Willen der Eltern muss Jan gehen. «Er wurde uns einfach weggenommen», klagt die Mutter.

«Es passiert häufig, dass Lehrer Eltern unter Druck setzen, ihrem Kind Ritalin zu geben», sagt Kindheitssoziologe Pascal Rudin. Wer in der Schule auffällt, laut ist, oder ein Hans-guck-in-die-Luft, passt nicht ins System.

Das weiss auch Konrad Kals (62) aus Heiligkreuz SG, Primar- und Sekundarlehrer. «Viele Lehrer sind überfordert mit verhaltens-auffälligen Schülern.» Er unterrichtet seit 40 Jahren – und hat Eltern noch nie geraten, ihrem Kind Ritalin zu geben. «Es ist Aufgabe eines Lehrers, auch mit schwierigen Kindern umgehen zu können.»

Ruth Oechsli (64), Psychotherapeutin und Schulleiterin der Schule für offenes Lernen in Liestal, kritisiert: «Kinderärzte verschreiben heute viel zu einfach Ritalin. Das ist ein gravierendes Problem.» Beobachtungen in ihrer Schule zeigen: «Manchmal mussten 30 Prozent der Neuzugänger in unserer Schule Ritalin oder ähnliche Medikamente nehmen.»

Vielen gilt Ritalin offenbar als Allheilmittel: Der Konsum des Medikaments ist zwischen 1999 und 2013 um 800 Prozent gestiegen. Die Kosten der IV aufgrund frühkindlichen ADHS′ sind innerhalb von zehn Jahren um 51 Prozent gestiegen, von 37 auf 56 Millionen Franken im Jahr 2011.

Die Behörden und der Bundesrat orten bis heute keinen Handlungsbedarf. Rund drei bis fünf Prozent aller Kinder und Jugendlichen sind von ADHS betroffen – so zumindest steht es in einem Expertenbericht des BAG vom November 2014. Die Hälfte davon wird mit Methylphenidat behandelt. Zahlen, die von Kritikern bezweifelt werden. «Früher wurde ADHS sicher zu selten diagnostiziert. Heute muss man aufpassen, dass es nicht zu oft passiert», warnt Jörg Leeners (54), Chefarzt vom Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst Schwyz. Das Problem: «ADHS zu erkennen ist sehr schwierig.»

Eine seriöse Abklärung dauere mindestens zehn Stunden. «Ein Kind, das alle Symptome für ADHS zeigt, muss noch lange nicht ADHS haben.» Auslöser für Probleme könne etwa auch Unreife sein, eine Depression oder eine bipolare Störung. Wolfgang Tschacher (58), Professor an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bern, ortet «monetäre Interessen» als Erklärung für die explosionsartige Zunahme von ADHS, «immerhin ist ADHS ein Milliardengeschäft für die Pharmaindustrie». 2013 machte allein Novartis mit Ritalin weltweit einen Umsatz von 594 Millionen Dollar. 2011 untersuchte Tschacher in einer Studie 200 Erwachsene auf ADHS. Sein Ergebnis: «ADHS ist keine klare Krankheit, sondern eher ein Persönlichkeitszug, unter dem die Betroffenen und ihre Umwelt leiden.»

Ob ADHS tatsächlich eine Krankheit ist, bezweifeln immer mehr Experten. Bereits 2009 distanzierte sich der «Erfinder» von ADHS, Leon Eisenberg (1922–2009), von seiner Jugendsünde. Kurz vor seinem Tod erzählte der US-Psychiater dem «Spiegel»: «ADHS ist ein Paradebeispiel für eine fabrizierte Erkrankung». Und der US-Kinderarzt und Neurologe Richard Saul, kam in seinem kürzlich erschienenen Bestseller «Die ADHS-Lüge» zu dem Fazit: «ADHS gibt es nicht. Was es gibt, sind die Symptome, doch die gehören zu anderen Krankheiten.»

Betroffenen hilft der Expertenstreit freilich wenig. Jan beispielsweise erlebte in dem Heim eine schlimme Zeit. Die Kinder mobbten ihn, nur alle zwei Wochen konnte er seine Eltern sehen. Nach einem Jahr erlaubten die Behörden, ihn zurückzuholen. Ein neuer Psychiater, der vierte mittlerweile, begann eine Einzel- und Familientherapie. Das Ritalin setzte er ab. Der Spezialist erweist sich als Glücksfall. Heute, anderthalb Jahre später, ist Jan nicht wiederzuerkennen – und Ritalin ist kein Thema mehr.

*Name geändert

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