Samstagmorgen am Bahnhof in Göschenen UR. Glasige Eiszapfen ziehen an den Dächern, das Thermometer in Karl Mattlis (63) altem Daihatsu zeigt Minusgrade an. Er fährt vor eine Holzscheune der SBB – das Postverteilzentrum in der Region. Und füllt den Kofferraum mit Kisten voller Couverts, Prospekten und dem «Urner Wochenblatt». Dann tritt er den beschwerlichen Rückweg an. Dringt mit mir und der Fotografin auf dem beschneiten Strässchen ins Tal hinein Richtung Göscheneralp. Bis uns eine Barriere den Weg verstellt. Karl Mattli holt einen Schlüssel aus seiner Faserpelzjacke, lächelt und sagt: «Hier darf nicht jeder durch.» Nur wer auf der Göscheneralp wohnt, ist befugt. Jederzeit kann eine Laui – wie sie hier der Lawine sagen – ein Auto unter sich begraben. Er selbst lag deshalb 2019 auf einen Schlag unter einer drei Meter dicken Schneeschicht. «Doch das ist nun vorbei», sagt er. Themenwechsel.
Zweimal pro Woche holt Karl Mattli die Post und verteilt sie im vorderen Teil der Göscheneralp: Im Gwüest, auf 1600 Metern, ist er aufgewachsen. Das Gwüest, das ist die Kapelle «zur schmerzreichen Muttergottes», umringt von ein paar holzigen Häusern und Ställen, die mit Seilen an Felsbrocken festgeschraubt sind, damit sie keine Lawine fortreisst. Im Sommer trampeln 50’000 einheimische Berggängerinnen und -gänger sowie Touristen aus aller Welt in Birkenstocksandalen die Pfade breit. Im Winter sind die Bewohner ganz unter sich. Ein Dutzend sind es. Fünf Familien. Fast alle heissen Mattli. Karl, Elisabeth (77) und Konrad (92) Mattli – alle nicht direkt miteinander verwandt – besuchen wir an diesem Tag.
Bei einem Parkplatz stellt Karl Mattli sein Auto ab, wir steigen auf seinen schweren Schneetöff um – auf der Göscheneralp das, was für den Stadtmenschen das Tram oder der SUV ist. Dann gleitet er mit uns durch eine unberührte Weite, wie sie in der Skiliftnation Schweiz selten ist. Bis zum Horizont glitzert und gleisst es weiss, ab und zu schüttelt sich ein Nadelbaum, weil ein Tierchen an seinen Ästen rupft, rechts und links wachsen Granitberge in den Himmel. Und in der Nähe zieht die Göschener Reuss vom Chelengletscher her ihre Spur durchs Tal. Karl Mattli macht kurz Pause, sein Blick wandert zu den sonnengetränkten Bergspitzen, er sagt: «Ich kann mir nichts Scheeneres vorstellen.»
Sie helfen sich selbst
Die Einheimischen der Göscheneralp, so sagt man, hätten Wurzeln bis in die Hölle. Sie müssen Steinschlag, Lawinen, Erdrutsch trotzen. Und manchmal sind sie ganz abgeschnitten von der Welt. In den alten Zeiten, als mehr Schnee fiel und man nur mit Ski nach Göschenen und zurück kam, dauerte es auch schon mal zwei Wochen, bis man wieder zum Kanton Uri gehörte. Hinzu kommt, dass von November bis Februar kein Sonnenstrahl zum Dorf dringt. Karl Mattli nimmt das gelassen, sagt: «Ihr seid im Näfel und seht keine Schiissi, wir sind im Schatten und haben freie Sicht.» Fest steht: Die widrigen Lebensumstände haben die Menschen hier oben geprägt. Sie halten zusammen. Vertrauen auf die Natur – mehr als auf die übrige Schweiz.
Nun stehen wir in Mattlis Haus, auf dem Küchentisch liegt eine Blätterteig-Birnenwegge, die seine Frau für uns gebacken hat – obwohl es ihr lieber gewesen wäre, wir Presseleute wären in Zürich geblieben. Sie hat genug vom «Wandervolk, das seinen Dreck bei uns liegen lässt». Karl Mattli tut viel für das Dorf. In seiner Garage ist die Feuerwehr einquartiert – ein Anhänger mit Schutzanzügen und Helmen. In der Messe spielt er Harmonium. Fällt viel Schnee, hilft er, den Weg frei zu fräsen. Bis vor kurzem fuhr er Schülertaxi. Er halte die Gemeinschaft zusammen, sagen wir. Er winkt ab. «Wir alle helfen einander.»
Mattli lebt vom Bauern, von seinen Schafen, Ziegen und Kühen. Das Wetter gibt den Takt vor. Und ist wankelmütig. Er sagt: «Hier oben kannst du schlecht planen.» Manchmal schneit es schon im Oktober, wenn niemand damit gerechnet hat, im Stall noch Mist und Gülle liegen. Vom Wetter- und Lawinenbericht hält er so viel: Ihm müsse niemand sagen, wie gefährlich es sei. «Du musst selbst ‹zLuft› schauen.»
Die Menschen hier helfen sich selbst. Und lassen sich nicht gern dreinreden. Auch von den Städtern nicht. Es dauert nicht lange, bis Karl Mattli auf das Thema Wolf kommt. Vergangenes Jahr begegnete ein Bekannter von ihm dem Tier bei einer SAC-Hütte. Es hat spürbar Spuren hinterlassen: Die Schafe verhielten sich zu der Zeit komisch, erzählt Mattli. Sonst seien sie immer sofort zu ihm gekommen, wenn er sie gerufen habe. Nun rannten sie bergwärts, und er habe sie fast nicht mehr einfangen können. Karl Mattli will den Wolf weghaben. Er sagt: «Wir können nur hier oben leben, wenn er uns mit unseren Tieren in Ruhe lässt.»
Leben mit einer eigenen Zeitrechnung – langsam
Jetzt müssen wir weiter. Elisabeth Mattli wartet schon auf uns, ihr Handyanruf lief ins Leere, der Empfang ist schlecht, überall hier. Wir stapfen zu ihrem Haus, das man am 6x6-Raupengefährt ihres Sohnes Gläus (35) vor der Tür erkennt. In der Küche dampft es aus einem Topf Beenälisuppä, eine Gerstensuppe mit Borlottibohnen. Die Frau mit dem kalkweissen Haar sagt: «Ihr müsst erst etwas in den Magen bekommen.»
Vergangenen März ist Mattlis Mann gestorben, sie hat ihn zwei Jahre lang daheim gepflegt, nun wohnt sie nur noch mit dem Sohn im grossen Haus. Sie sagt: «Ich kann mir kein anderes Leben als das hier vorstellen.» Auch wenn sie es anders kennt. Elisabeth Mattli ist eine Lachoonigi, eine, die man hat kommen lassen – eine Zugezogene. Wie alle Ehefrauen im Ort. Aufgewachsen ist sie im Kanton Schwyz, viele Jahre lang holte sie als Hebamme in Städten wie Basel Kinder auf die Welt. Bis sie 1984 ins Gwüest heiratete. Mit 38 Jahren. «Ich hatte vorher keine Zeit dafür», sagt sie und verstummt wegen des Presslufthammerdröhnens eines Helikopters. «Kein gutes Zeichen», sagt sie. Sohn Gläus, Mitglied der hiesigen Rettungskolonne, schaut im Wohnzimmer aus dem Fenster. Kurz darauf gibt er Entwarnung: «Ist wohl das Militär, am Ton an.»
Das Leben auf der Göscheneralp folgt einer eigenen Zeitrechnung. Ende Sommer füllen die Einheimischen ihre Keller mit getrocknetem Fleisch, Käse, Eingemachtem und Konserven. Dann schauen sie zu, wie sich der Schnee über das Dorf legt und schalten bis zum Frühling einen Gang zurück. Der Winter schaufelt viel Zeit frei. Weder Internet noch Mobiltelefone lenken ab. Noch in den 90er-Jahren empfing man nicht einmal Schweizer Fernsehen.
Elisabeth Mattli hatte mit all dem nie Mühe, sagt sie. Nicht einmal, als sie zuzog. «Mir wird einfach nie langweilig.» Sie führt uns in ihr Atelier im ersten Stock. Hinten im Zimmer steht eine Webmaschine, an der Wand stapeln sich Kästen mit Garnknäueln. Sie verarbeitet ihre Ideen zu Teppichen, Tischsets, Vorhängen – so modern und minimalistisch wie dänische Designklassiker. Wie kreativ Mattli ist, zeigt sich, als sie ein dunkelgraues Hemd hervorholt, das sie für ihren Sohn gewebt hat. Auf der Knopfleiste leuchtet eine lange rote Linie. «Damit der Gläus den roten Faden nicht verliert.»
Weben, kochen, im Haus zum Rechten schauen – so wartet Elisabeth Mattli auf den Frühling. Und der kommt mit der Sonne, darin sind sich die Gwüester einig. Immer am 3. Februar gegen 15 Uhr zeigt sie sich zum ersten Mal. Für fünf Minuten bloss! Für die Einheimischen ein Ereignis. Elisabeth Mattli holt ein Foto hervor: Sohn und Mann sitzen auf der Terrasse vor dem Haus, lachen und halten ein Glas Rotwein in die Luft. «So begrüssen wir jedes Jahr die Sonne», sagt Mattli. So machen das alle, ein Brauch.
Eine Lawine stand am Anfang vom Gwüest
Die Schönheit der Landschaft, das Leben in der Abgeschiedenheit – die Göscheneralp im Winter wirkt wie ein Sehnsuchtsort. Eine Idylle. Doch es gibt auch düstere Kapitel. Davon erzählt uns Konrad Mattli, mit seinen über 90 Jahren der Älteste von denen, die noch im Gwüest leben. Mit grauem Zauselbart, verstrubbeltem Haar und grimmigem Blick sitzt er am oberen Ende des Küchentischs, als wir kommen. Mitten am Nachmittag, leider. Er ist nicht zufrieden mit uns und donnert los: Er habe sein ganzes Leben draussen verbracht. Als Jäger, als Strahler, der Kristalle birgt, als Hüttenwart. Ausgerechnet unseretwegen habe er den ganzen Nachmittag drinnen bleiben müssen, er zeigt auf die Wanderschuhe, die er schon angezogen hat. «Eine hüere Schweinerei!»
Das Gewitter in der Küche verzieht sich rasch. Und Konrad Mattli erklärt, weshalb die Menschen im Gwüest von ausserhalb wenig erwarten. Es hat mit seiner eigenen Geschichte zu tun. Konrad Mattli ist dort aufgewachsen, wo heute der Göscheneralpsee liegt, ein Stausee der Centralschweizerische Kraftwerke AG (CKW). Dort stand einst ein Dorf mit Kirche und Hotel: Hinteralp.
Der Anfang von dessen Ende kam 1951, mit einer riesigen Laui. Die elf Familien in der Hinteralp überlebten, doch 105 Stück Vieh starben, zwei Häuser und zwölf Ställe waren zerstört – Mattli hat jede Zahl im Kopf, «ich habe es ja erlebt!» Die Familien verloren ihre Existenzgrundlage. Sie waren geschwächt. Die Kraftwerksbauer hatten freie Bahn. Innert kurzer Zeit kauften sie einen Grossteil des Landes. «Sie ersäuften unser Dorf», sagt Konrad Mattli. Viele der Bewohnerinnen und Bewohner zogen weg aus dem Tal, einige wenige wie die Familien von Konrad und Karl Mattli siedelten im Gwüest an – vorher gab es den Weiler nicht.
Mattli blättert in einem Bildband, «Berglerleben auf der alten Göscheneralp». In Schnüerlischrift hat er dort seine Erinnerungen festgehalten. «Apfeltransport vom Grünenwald» steht bei einem Foto von ihm und Nachbarn als Buben. Einen Groll hegt er heute nicht. Er sagt: «Es war halt so.» Bergler sind pragmatisch. Das Kraftwerk brachte der Alp die Strasse nach Göschenen. Und Arbeitsplätze.
Nun hat Konrad Mattli genug. Bevor er zu den beiden Wanderstöcken greift, um doch noch einen kleinen Spaziergang zu machen, tätschelt er mir auf die Schulter, lacht hinter den Stockzähnen und sagt: «Gell, so wie ich hat dir selten einer die Kappe gewaschen.»
Wir verabschieden uns. Elisabeth Mattlis Sohn Gläus fährt uns mit dem Raupengefährt aus dem Tal. Zurück bleibt etwas Wehmut. Auf der Autobahn Richtung Zürich fällt mir auch ein, weshalb. Die Menschen auf der Göscheneralp sind wie die Kristalle aus der Region: ungeschliffen und schön, wenn man ihnen näher kommt.
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