Auto fahren, das vermisse sie schon. Und wieder einmal auswärts gut essen gehen. Sie habe keine grossen Ansprüche, eigentlich. Die überfüllte Einzimmerwohnung in Walenstadt SG, ihre zehn Jahre alten Kleider, das geht schon. Und Fleisch müsse sie nicht immer essen.
Aber ihr alter Stammtisch, ein paar Dörfer weiter, ihre Leute treffen, reden, das braucht sie, sie hat noch so viel Energie. Man spürt es sofort: an ihrem jugendlichen Gang, an ihren Sprüchen, locker auf den Lippen, immer direkt. Ihr Lebensmotto: Wer sich einsetzt, setzt sich aus. «Ich kann es mir nicht leisten, auswärts zu essen», sagt sie. «Nicht einmal im Monat.» Das fehlt. Der Kaffee ist teuer. Das Bahnbillett ebenso. Und dann hat sie sich verschuldet, schon wieder. Weihnachtszeit, sie will doch Geschenke kaufen.
Ilse C. (72) reicht die Rente nicht zum Leben. 2300 Franken erhält sie im Monat. Sie lebt am Existenzminimum. Weil sie damit ihre Lebenskosten nicht mehr decken kann, bekommt sie zur Rente Ergänzungsleistungen (EL). So wie ihr ergeht es 186 000 älteren Mitmenschen.
Vier Jobs auf einmal
Und doch kommt Ilse C. nicht richtig über die Runden. «Ich kann einfach nicht mit so wenig Geld umgehen.» Noch bis vor drei Jahren hat sie gearbeitet, als Taxifahrerin im Sarganserland. Dann machten die Augen nicht mehr mit.
Einst, da war sie Buchhalterin in einer Bank, ein guter Job. Welche Ironie. «Budgets kann ich gut erstellen. Aber sie einhalten, das ist eine andere Geschichte.» Sie wollte etwas Neues ausprobieren, wurde Alleinsekretärin einer sozialen Institution. Und erlitt ein Burnout. Das war vor knapp 25 Jahren.
Sie wurde arbeitslos, liess sich ihre Pensionskasse auszahlen, wollte sich selbständig machen. Das Geld war schnell aufgebraucht. Dazu ging die Beziehung zu ihrem damaligen Freund in die Brüche. Seither fehlt ihr beides: ein richtiger Mann, ein richtiger Job. Und Kinder hat sie auch keine.
Sie schlug sich mit Teilzeitstellen durch. Es gab Zeiten, da hatte sie gleichzeitig vier verschiedene Jobs. Sie verschuldete sich. Erst mit 5000 Franken. Mit der Zeit wurden daraus 30 000 Franken. Doch irgendwie ging es meist. Am längsten war sie Taxifahrerin, 20 Jahre lang, im Sarganserland.
Reden tut gut
Ein Tag Mitte Dezember. Besorgungstag. Einmal im Monat löst Ilse C. eine Gemeinde-Tageskarte für Einkäufe und Erledigungen. «Öfter kann ich mir die Tageskarte nicht leisten. Erst holt sie ihr Haushaltsgeld ab, bei der Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) in Sargans SG. Wie alle zwei Wochen. Vergangenes Jahr wurde bei ihr eine bipolare Störung festgestellt. Darauf entschloss sie sich für eine Berufsbeistandschaft. Suchte jemanden, der ihre Finanzlage in Ordnung bringt.
Die Kesb verfügt seither über ihre Finanzen. Ihr Haushaltsgeld kriegt sie bar auf die Hand, 290 Franken alle zwei Wochen. Für Essen, Haushaltsartikel, den Coiffeur, Kleider. Pro Tag sind das 20 Franken. Wenn ihr das Geld nicht reicht, klingelt sie bei ihrer Nachbarin. Die gibt ihr ein 20er-Nötli Vorschuss.
Heute bereut sie den Entscheid, in Beistandschaft zu gehen: «Das macht mich fertig, ich kann nichts selber entscheiden und bin der Behörde völlig ausgeliefert.» Sie schläft schlecht, denkt sogar daran, auszuwandern. Nur so könne sie sich aus der behördlichen Zwangsjacke befreien, sagt sie.
Ilse C. ist in psychologischer Therapie, wegen der Einsamkeit. Das tue gut, einmal in der Woche mit jemandem zu reden, einfach so. Sie hofft, dass es ihr irgendeinmal besser geht mit dem Geld. Dass sie im Lotto gewinnt, vielleicht. Oder noch schöner: «Dass ich einen Mann finde, der mich will.» Sie sagt es mit einem Lächeln.