Rassismus in der Schule und am Arbeitsplatz
Die Hemmschwelle sinkt

Neue Zahlen des Bundes zeigen: Beratungsstellen meldeten im letzten Jahr mehr als 300 rassistische Übergriffe – so viele wie noch nie.
Publiziert: 07.04.2018 um 23:44 Uhr
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Aktualisiert: 05.10.2018 um 14:13 Uhr
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Häufig sind Menschen schwarzer Hautfarbe und Juden Opfer von Diskriminierung und Gewalt. Wie solche Übergriffe ablaufen können, hat unsere Illustratorin Lily Metzker dargestellt.
Foto: Illustration: Lily Metzker
Fabian Eberhard (Text) und Lily Metzker (Illustration)

Die Schmerzen begannen immer kurz vor Schulbeginn. Fast täglich klagte der zehnjäh­rige A. S.* aus Bern über Bauchweh. Seine Mutter war verzweifelt. Niemand konnte ihr sagen, an welcher Krankheit der Bub leidet.

Bis er ihr eines Morgens von der Schule erzählte. Davon, wie ihn Mitschüler wegen seiner dunklen Hautfarbe beschimpfen. Ihm «Neger» nachrufen, ihm sagen, dass er stinke und Ebola habe – die Seuche aus Westafrika.

Der Fall von A. S. ist einer von vielen, welche Beratungsstellen 2017 beschäftigt haben. Ein noch unveröffentlichter Bericht der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR) und des Vereins Humanrights.ch zeigt: Im vergangenen Jahr mussten die 27 Schweizer Rassismusstellen 300 Diskriminierungsopfer beraten. Das sind 50 Prozent mehr als 2016, so viele wie nie.

Nur die wenigsten wenden sich an eine Beratungsstelle

EKR-Präsidentin Martine Brunschwig Graf sagt: «Die Zahlen zeigen nur einen kleinen Anteil des Problems. Die Dunkelziffer liegt höher.» Das heisst: Nur die wenigsten Rassismusopfer wenden sich an eine Beratungsstelle.
Ein Grossteil der Vorkommnisse im letzten Jahr traf Schwarze. Sie waren in 95 Fällen Opfer von Diskriminierung. 90 Mal richteten sich die Übergriffe gegen Muslime und Menschen aus dem arabischen Raum, sechs Mal baten Juden um Hilfe.

Meist blieb es bei Drohungen und Beschimpfungen oder schweren Benachteiligungen. In 21 Fällen war aber auch körperliche Gewalt im Spiel. So wie am 18. Juni 2017, als Antisemiten in einer Zürcher Quartierstrasse einen orthodoxen Juden zu Boden boxten und ihn am Kopf verletzten.
Sorgen macht den Verfassern des Berichts, dass die Täter ihren Hass nicht mehr verheimlichen, dass sich die Hetze vom privaten Rahmen in die Öffentlichkeit verlagert. Der Anteil an Diskriminierungen vor Zeugen am Arbeitsplatz und in der Schule steigt. Im Bericht heisst es: «Eine vertiefte Analyse ergab, dass insbesondere im Bereich der obligatorischen Schule viele Vorfälle registriert wurden.»

Warum versuchen Fremdenfeinde nicht mehr, ihre Taten zu verbergen?

Nur, weshalb stieg die Zahl der Vorfälle 2017 so massiv an? Warum versuchen Fremdenfeinde häufig gar nicht mehr, ihre Taten zu verbergen? Woher diese Hemmungslosigkeit? Brunschwig Graf: «Wenn sich mächtige Politiker wie US-Präsident Donald Trump offen rassistisch äussern, dann leistet das einem fremdenfeindichen Klima Vorschub» und strahle auf die Bevölkerung ab, mache Rassismus salonfähig. Die EKR-Präsidentin: «Fremdenfeinde fühlen sich in ihrer Haltung bestätigt.»

David Mühlemann von Humanrights.ch sieht es auch so: «Der offene Rassismus ist auf internationaler Ebene im politischen Mainstream angekommen.» Das führe dazu, dass sich auch viele Bürger nicht mehr an gesellschaftliche Konventionen gebunden fühlten. Mehr noch: «Die Schweiz ist in dieser Hinsicht europaweit ein negatives Vorbild.»

Die frühere FDP-Nationalrätin nimmt darum auch hiesige Politiker in die Pflicht. Sie sollten sich «ihrer Verantwortung bewusst sein». Brunschwig Graf erwähnt ein Wahlplakat der Jungen SVP Bern, mit dem die Partei Stimmung gegen Fahrende machte und aufgrund dessen die Staatsanwaltschaft wegen Rassendiskriminierung ermittelt: «Das ist kein Populismus, sondern gravierende Diskriminierung.»

Aber sind die Schweizer ein Volk von Rassisten? Systematische Langzeitbeobachtungen über Fremdenfeindlichkeit fehlen. Anhaltspunkte liefert jedoch eine im letzten Jahr vom Bundesamt für Statistik (BFS) veröffentlichte Erhebung zum Zusammenleben in der Schweiz.
Demnach gab im Jahr 2016 mehr als jeder dritte Befragte an, sich durch die Anwesenheit von als «anders» empfundenen Personen gestört zu fühlen; 16 Prozent fühlten sich gar bedroht – am häufigsten aufgrund von Menschen mit einer anderen Nationalität, gefolgt von anderen Religionen und Hautfarben. Wie auch die neuen Zahlen der Beratungsstellen zeigen, ist das Problem im Arbeits- und Berufsumfeld am grössten.

«Der gesetzliche Schutz vor Diskriminierung ist ungenügend»

Gleichzeitig findet aber auch eine Mehrheit, dass Ausländer mehr Rechte erhalten sollten. 66 Prozent vertreten die Ansicht, dass Rassismus ein ernstes gesellschaftliches Problem ist. 56 Prozent sind überzeugt, dass die Integra­tion der Migranten in der Schweiz gut funktioniert.

Um den Negativtrend zu stoppen, muss laut Brunschwig Graf weiter in die Prävention investiert werden. Die Rassismus-Beratungsstellen spielten dabei eine zentrale Rolle: «Wir sollten insbesondere Arbeitgeber und Schulen stärker für die Thematik sensibilisieren.»

Zudem fordert die Präsidentin der Anti-Rassismus-Kommission mehr rechtlichen Spielraum für Opfer: «Der gesetzliche Schutz vor Diskriminierung ist in der Schweiz ungenügend.»
Immerhin: Die Situation an der Schule von A. S. hat sich unterdessen gebessert. Eine Beratungsstelle organisierte zusammen mit Lehrern und Schulleitung einen runden Tisch und führte Gespräche mit Mitschülern des Buben. Seither sind seine Bauchschmerzen verschwunden.

* Name der Redaktion bekannt

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