Rapperswil-Jona SG ist die grösste Stadt, die eine hat – wie lange noch?
Kampf um die Gemeindeversammlung

Das Desinteresse an Gemeindeversammlungen ist ein grosses Problem. In vielen Gemeinden ist darum der Kampf um diese Tradition entbrannt. Ganz aktuell in Rapperswil SG. Bürgerin Elisabeth Beer will ein Gemeindeparlament. Stadtpräsident Martin Stöckling den Status quo.
Publiziert: 15.01.2020 um 22:46 Uhr
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Elisabeth Beer (65) aus Rapperswil-Jona SG will die Gemeindeversammlung abschaffen. «Wir haben hier einen Demokratie-Notstand», sagt sie.
Foto: Siggi Bucher
Flavio Razzino

Extrem tiefe Stimmbeteiligungen an Gemeindeversammlungen machen es möglich: Vereine organisieren spielend leicht Mehrheiten, um dann die Gemeindekasse zu plündern. So geschehen an den Gemeindeversammlungen in Sissach BL und Grenchen SO im vergangenen Dezember. In beiden Orten gelang es den lokalen Fussballklubs, dank Mobilisierung ihrer Mitglieder Millionen für Kunstrasenfelder zu ergattern (BLICK berichtete).

Auch wegen solcher Vorfälle ist die Gemeindeversammlung unter Beschuss geraten. In Thalwil ZH soll im Mai über die Abschaffung abgestimmt werden, in Rapperswil-Jona SG hat die Debatte in den letzten Monaten ebenfalls wieder Fahrt aufgenommen, und in Horgen ZH wurde erst letzten November über die Abschaffung abgestimmt – mit negativem Ausgang.

Die Debatte mutiert zum Kulturkampf

Der Kampf um die Gemeindeversammlung ist also voll entbrannt – und mancherorts wird er sehr emotional geführt. Das bestätigt Alfred Fritschi (65), der in Horgen die Initiative zur Abschaffung lanciert hatte. «Aus der Systemfrage Parlament oder Versammlung wurde ein echter Kulturkampf! Alteingesessene Horgner empfanden die Forderung nach der Abschaffung als Angriff auf ihnen heilige Traditionen», sagt der SP-Politiker.

Dass Gemeindeversammlungen Orte der gelebten Demokratie seien, hält er für einen Mythos: «Wenn eine winzig kleine Minderheit über eine grosse Mehrheit entscheidet, ist das für mich das Gegenteil einer funktionierenden Demokratie und somit nicht schweizerisch.»

Abschaffung der Gemeindeversammlung abgeschmettert

Bloss: Die Horgner sahen das bei der Urnen-Abstimmung im November 2019 anders: 70 Prozent lehnten dort die Abschaffung der Gemeindeversammlung ab. «Ich muss diesen Entscheid akzeptieren, bin mir aber sicher, dass die Frage früher oder später wieder aufs Tapet kommt – weil die Probleme der Gemeindeversammlung nicht gelöst sind», so Fritschi.

Genau das passiert gerade in Rapperswil-Jona SG. Die Stadt am oberen Zürichsee ist die grösste Gemeinde, die noch eine Gemeindeversammlung hat. Doch auch hier wird darüber gestritten, ob mit einem Parlament die Demokratie nicht gestärkt würde.

Spreitenbacher pfeifen Gemeinderat zurück

Tiefe Stimmbeteiligung an Gemeindeversammlungen? Nicht so am Dienstag in Spreitenbach AG. Ein Fünftel der Stimmberechtigten – über 900 Personen – besuchten in der Agglomerationsgemeinde die Versammlung. Mobilisiert hatte das Bauprojekt «Zentrum Neumatt».

Rund um das bestehende Shoppi Tivoli sollte ein belebtes und attraktives Quartier entstehen. In einem mehrjährigen Planungsprozess wurde im Auftrag des Immobilienfonds der Credit Suisse eine 200 Millionen Franken teure Bebauung mit zwei Doppelhochhäusern und zwei Zeilenbauten entwickelt.

Die neue Überbauung sollte fast 600 Wohnungen umfassen. Doch die Gemeindeversammlung schmetterte die Pläne ab – obwohl alle Parteien bis auf die SVP die Vorlage befürworteten. Der Spreitenbacher Gemeindepräsident Valentin Schmid gab nach der Abstimmungsniederlage seinen Rücktritt bekannt. Den hatte er allerdings schon zuvor angekündigt.

Tiefe Stimmbeteiligung an Gemeindeversammlungen? Nicht so am Dienstag in Spreitenbach AG. Ein Fünftel der Stimmberechtigten – über 900 Personen – besuchten in der Agglomerationsgemeinde die Versammlung. Mobilisiert hatte das Bauprojekt «Zentrum Neumatt».

Rund um das bestehende Shoppi Tivoli sollte ein belebtes und attraktives Quartier entstehen. In einem mehrjährigen Planungsprozess wurde im Auftrag des Immobilienfonds der Credit Suisse eine 200 Millionen Franken teure Bebauung mit zwei Doppelhochhäusern und zwei Zeilenbauten entwickelt.

Die neue Überbauung sollte fast 600 Wohnungen umfassen. Doch die Gemeindeversammlung schmetterte die Pläne ab – obwohl alle Parteien bis auf die SVP die Vorlage befürworteten. Der Spreitenbacher Gemeindepräsident Valentin Schmid gab nach der Abstimmungsniederlage seinen Rücktritt bekannt. Den hatte er allerdings schon zuvor angekündigt.

Flammende Befürworterin des Parlaments ist Bürgerin Elisabeth Beer (66). 2015 war sie Mitglied eines Initiativ-Komitees, das die Versammlung abschaffen wollte. Damals scheiterte sie. «Jetzt scheint sich in Rapperswil aber der Wind zu drehen – es geht einfach nicht mehr so weiter», sagt Beer. Für sie ist die Gemeindeversammlung aus der Zeit gefallen. Sie spricht gar von einem «Demokratie-Notstand» in der Stadt: «Ein Parlament muss her – besser früher als später!»

Mehrheit in der Gemeindeversammlung, Niederlage an der Urne

Der Stadtrat habe nämlich viel zu viel Macht, politisiere an der Bevölkerung vorbei und wisse genau, wie er an schlecht besuchten Gemeindeversammlungen Mehrheiten beschaffen könne. An der Urne scheitere er aber auffallend häufig, so Beer. «Das zeigt doch, dass hier etwas nicht stimmt.» Hinzu komme, dass auch in Rapperswil die Vereine die Gemeindekasse plündern könnten.

Zuletzt geschehen laut Beer im Dezember 2019: Die Rapperswil-Jona Lakers und die Jona-Uznach Flames mobilisierten enorm für eine Eis- und Unihockeyhalle. An der letzten Gemeindeversammlung am 5. Dezember stimmten die Anwesenden einem Kredit für 1,5 Millionen Franken aus der Gemeindekasse zu. Zudem gab es auch noch Beiträge an die Betriebskosten der Doppelhallen – eine halbe Million Franken jährlich.

Mobilisierung von Fans und Sympathisanten

«Die Vereine haben mehrere Hundert Mitglieder mobilisiert, um diese Abstimmung zu gewinnen», sagt Beer. Hätte Rapperswil-Jona ein Parlament, ist sie sich sicher, hätte so etwas verhindert werden können.

Dass die Gemeindeversammlung Schwächen hat, ist sich auch der Stadtpräsident von Rapperswil-Jona, Martin Stöckling (45), bewusst. «Als 2015 die Abschaffung der Gemeindeversammlung zur Debatte stand, war ich Präsident des Gegenkomitees. Heute, mit vier Jahren Erfahrung als Stadtpräsident, muss ich die Vorzüge der Gemeindeversammlung auch relativieren.» So spüre der Rapperswiler Stadtrat derzeit die Stimmung der breiten Mehrheit der Bevölkerung «zu wenig gut», gibt Stöckling zu.

Seit Jahren kämpfe man zum Beispiel dafür, die vom Verkehr chronisch verstopfte Stadt zu entlasten – doch fast jedes Infrastrukturprojekt scheitere am Ende an der Urne. «Dass jetzt einige glauben, ein Parlament könnte hier die Lösung bringen, ist nachvollziehbar», so Stöckling.

Stadtpräsident sieht Vorteile in Gemeindeversammlung

Er selber hält aber nach wie vor nicht viel von der Abschaffung der Gemeindeversammlung. Seine Befürchtung: «Ein Parlament macht die politischen Prozesse langsamer, die Gefahr steigt, dass parteipolitisches Hickhack Sacharbeit in den Hintergrund drängt.»

Für ihn überwiegen die Vorteile einer Gemeindeversammlung darum immer noch. Der Rapperswiler Stadtpräsident sagt ganz offen: «Natürlich auch, weil der Stadtrat bei einem Gemeindeparlament Macht verliert. Die Gemeindeversammlung ist aus unserer Sicht ein Weg mit weniger Widerständen.»

Wurstsalat und Babysitter sollen es richten

Ein Nachteil von Gemeindeversammlungen: Sie sind meist abends – und für junge Eltern so nur schwer zu besuchen. In der Berner Gemeinde Court geht der Gemeinderat darum neue Wege. Er will Eltern von Kleinkindern einen Babysitter zahlen, wenn sie dafür an der Versammlung teilnehmen. Ziel ist, die Bürgerbeteiligung zu stärken. Die Babysitter dürfen 15 Franken pro Stunde in Rechnung stellen – für maximal drei Stunden. Das Angebot gilt für Eltern von Kindern bis zu zehn Jahren.

Auch Glarus Nord wagt ein Experiment. So soll die diesjährige Gemeindeversammlung an einem Samstag im September einen ganzen Tag lang dauern – inklusive Wurststand. Grund ist ein dichtes Programm mit vielen Geschäften. Der Gemeinderat hofft, dass dank freiem Tag und Verpflegung mehr Bürger den Weg an die Versammlung finden. Flavio Razzino

 

Ein Nachteil von Gemeindeversammlungen: Sie sind meist abends – und für junge Eltern so nur schwer zu besuchen. In der Berner Gemeinde Court geht der Gemeinderat darum neue Wege. Er will Eltern von Kleinkindern einen Babysitter zahlen, wenn sie dafür an der Versammlung teilnehmen. Ziel ist, die Bürgerbeteiligung zu stärken. Die Babysitter dürfen 15 Franken pro Stunde in Rechnung stellen – für maximal drei Stunden. Das Angebot gilt für Eltern von Kindern bis zu zehn Jahren.

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