Nach Jahrzehnten des Bevölkerungswachstums kehrte um das Millennium die demografische Entwicklung in den Südtälern Puschlav, Bergell und Calancatal. Während die Bevölkerung des Kantons Graubünden von 2000 bis 2015 um knapp 6 Prozent wuchs, verloren das Bergell 7 Prozent seiner Einwohner, das Puschlav 5 und das dünnbesiedelte Calancatal gar 25 Prozent.
Zwischen 90 und 95 Prozent der Schulabgänger verliessen das Bergell für die Berufsausbildung, schätzt die Bürgermeisterin der Talgemeinde, Anna Giacometti. Die Ausbildungsmöglichkeiten sind limitiert im 1500-Seelen-Tal wie auch in den andern Valli Italienischbündens, der kleinsten Sprachgemeinschaft des Bündnerlandes. Eine Mittelschule gibt es in keinem Südtal, eine Berufsschule nur im Puschlav.
«Die Jungen behalten zwar ihren Wohnsitz im Tal, kommen aber nur an den Wochenenden zurück», erzählt Giacometti. Permanent zurückkehren nach der Ausbildung würde wohl nur rund die Hälfte. In der Regel seien das diejenigen, die im Bergell gefragte handwerkliche Berufe erlernt hätten. Andere pendeln über den Maloja-Pass zur Arbeit ins angrenzende Engadin.
Um die Abwanderung zu bekämpfen, dürfe man die Jungen nicht einfach im Tal «blockieren» wollen, betont Giacometti im Gespräch mit der Nachrichtenagentur sda. «Wir müssen Strategien ausarbeiten, um neue Familien ins Tal zu holen», sagt sie.
Eine ähnliche Situation herrscht im Puschlav, obwohl dieses mit 4600 Einwohnern mehr Möglichkeiten bietet. Es gelte Bedingungen zu schaffen, welche es der jungen Generation ermöglichten, zu bleiben oder zurückzukehren, sagt Gemeindepräsident Alessandro Della Vedova. Zentral sei etwa die Berufsschule, die im Tal Ausbildungen in einem Dutzend von Berufen ermögliche.
Es sei klar, dass die Südtäler für verschiedene akademische Berufe keine Beschäftigungsmöglichkeiten anbieten könnten. «Aber es gibt Ausnahmen, die zeigen, dass die Schlacht nicht verloren ist», sagt Della Vedova.
Ein gegensätzlicher Trend ist im Misox zu beobachten, dem weiten A13-Tal südlich des San-Bernardino-Passes. Seit über zehn Jahren wächst die Bevölkerung schneller als im kantonalen Durchschnitt. Von 2000 bis 2015 nahm sie um 11 Prozent auf über 8000 Personen zu.
Im Gegensatz zum Bergell und dem Puschlav, die grösstenteils von italienischem Boden umgeben sind, grenzt das Misox im Süden frei von geografischen Hindernissen an den Kanton Tessin. Das sei der Hauptgrund für das Bevölkerungswachstum, meint Samuele Censi, Präsident der Region Moesa, welche das Misox und das Calancatal umfasst.
Das angrenzende Becken von Bellinzona sei einwohnermässig gesättigt, und die Bevölkerung ergiesse sich nun in die Tessiner Seitentäler und das untere Misox. Censi rechnet dort mit einem fortgesetzten Bevölkerungswachstum in den nächsten Jahren. Dazu beitragen werde der eben eröffnete A13-Umfahrungstunnel von Roveredo. Die verbesserte Lebensqualität ziehe eine neue Bevölkerung an.
Zwar absolviert auch im Misox ein Grossteil der Jugendlichen die Berufsausbildung ausserhalb des Tales - nach Schätzungen des regionalen Amtes für Berufsbildung sind es etwa 85 Prozent. Die meisten kehrten nach der Ausbildung aber zurück und fänden zu Hause durchaus Arbeit, erzählt Daniele Raveglia vom Amt für Berufsbildung.
Die Arbeitsmarktstruktur ist im Misox ähnlich wie im Tessin, und die Arbeitsmöglichkeiten sind vielfältiger als in den anderen Südtälern. Auch das Pendeln zur Arbeit ist aufgrund der Autobahnverbindung in den Nachbarkanton wesentlich attraktiver als in den anderen Südtälern.
Überhaupt scheint die Nähe zum Tessin das zentrale Kriterium für die positive Entwicklung im Misox zu sein. Denn mit steigender Distanz verpufft der Tessin-Effekt. So stark er im unteren Misox ist, erreicht er den Rest der Region Moesa kaum noch. Regionspräsident Censi geht davon aus, dass das obere Misox und Calancatal dem Trend der anderen Valli folgen werden - dem Weg der Schrumpfung.