Montagmorgen, 10 Uhr, am Frankfurter Hauptbahnhof: Als der Intercity aus Düsseldorf (D) auf Gleis 7 einfährt, stösst Habte A. (40) eine gleichaltrige Frau vor den Zug, kurz darauf ihren achtjährigen Sohn – die Mutter kann sich retten, der Junge stirbt. Eine 78-Jährige wehrt A.s Angriff in letzter Sekunde ab und wird dabei verletzt.
Einen Tag später stellt sich heraus: Habte A. lebte mit seiner Frau und drei Kindern in einem Weiler bei Wädenswil. Seit 2006 ist der aus Eritrea stammende Mann in der Schweiz, er hatte eine feste Arbeit und galt als integriert.
Die Polizei in Deutschland eröffnete ein Ermittlungsverfahren wegen Mordes, zurzeit klärt ein Psychiater ab, ob A. an einer psychischen Krankheit leidet und eventuell schuldunfähig ist. Sein Verhalten und die Schilderungen seines Umfelds deuten darauf hin, dass A. an einer paranoiden Schizophrenie erkrankt sein könnte.
Habte A. war nicht aggressiv, er war ängstlich
Am Arbeitsplatz war er deshalb krankgeschrieben. Gegenüber dem Nachrichtenmagazin «Spiegel» gaben Freunde an, er habe Stimmen gehört und sei paranoid gewesen.
Ein Landsmann will ihn noch am Freitagabend beim Hauptbahnhof Frankfurt gesehen haben: «Er sagte zu mir: ‹Fahr los, die Polizei verfolgt mich.›» Er habe nicht aggressiv gewirkt, nur ängstlich. Von einer psychischen Störung geht inzwischen auch die Zürcher Kantonspolizei aus. Als sie am Montagabend die Wohnung von A.s Familie im Weiler Tanne bei Wädenswil ZH durchsuchte, stiess sie auf Dokumente, die eine seelische Erkrankung nahelegen. Demnach war A. von seinem Hausarzt an eine psychiatrische Einrichtung in Horgen ZH verwiesen worden.
Wie der forensische Psychiater und langjährige Leiter der aargauischen Klinik Königsfelden, Josef Sachs (69), zu SonntagsBlick sagt, ist es zwar selten, aber nicht untypisch, dass Erkrankte aggressiv und gewalttätig reagieren. Um ihre Gefährlichkeit einzuschätzen, seien diverse Risikofaktoren zu beachten, erklärt Sachs. Wenn eine Person, die an Schizophrenie erkrankt ist, bereits Gewalt angewendet, Drohungen ausgestossen oder sich Waffen beschafft habe, wenn sie sich von einer bestimmten Personengruppe verfolgt fühle oder befehlende Stimmen höre – dann müsse der Arzt handeln. Er habe das Wissen und die Kompetenz, im Notfall eine zwangsweise fürsorgerische Unterbringung zu veranlassen.
Ein Verdacht alleine reicht nicht
Ein Problem sieht Sachs darin, dass die Schwelle zu einer solchen Einweisung sehr hoch sei. «Ein Verdacht alleine reicht nicht, man muss Beweise vorlegen können, dass die Person eine unmittelbare Gefahr für ihr Umfeld darstellt.»
Laut geltendem Recht muss der Betreffende an einer schweren Psychose leiden, Vorbereitungshandlungen unternommen oder konkrete Drohungen ausgesprochen haben. Bei einer fürsorgerischen Unterbringung bestehe grundsätzlich ein Zielkonflikt zwischen den Freiheitsrechten des Erkrankten und Sicherheitsüberlegungen. Am Ende biete eine erfolgreiche Behandlung aber auch einen Schutz vor Gewalt.
Zwangseinweisungen sind seltener geworden
Jüngste Zahlen des Bundes belegen, dass solche Zwangseinweisungen seltener geworden sind: 2013 nahm die Zahl der Patienten, die gegen ihren Willen in einer Anstalt untergebracht wurden, gegenüber dem Vorjahr um 20 Prozent ab und verharrt seitdem auf tiefem Niveau. Hintergrund für diese Entwicklung ist das seit 2013 geltende neue Erwachsenenschutzrecht, das die Hürden für eine unfreiwillige Einweisung in die Psychiatrie deutlich höher legte.
Psychiater wie Josef Sachs fordern schon länger eine Anpassung der Regeln für schwer psychisch Kranke. Zuletzt nach einem Fall im Jahr 2014.
Damals hatte ein junger Mann, dem es zuvor gelungen war, sich gegen eine Einweisung in die Psychiatrie zu wehren, in Basel zwei Menschen getötet. Nach der Wahnsinnstat wurde er wegen paranoider Schizophrenie für nicht schuldfähig erklärt.
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