Dass der renommierte Anwalt* bisweilen nackt war in seiner Kanzlei, stritt er in der Befragung durch den Richter nicht ab. Er habe im Sommer und Herbst 2020 gelegentlich in den Büroräumlichkeiten ein textilfreies Mittagsschläfchen gemacht. «Da entkleide ich mich zum Teil, damit der Anzug nicht zerknittert», sagte er gestern Dienstag vor dem St. Galler Kreisgericht.
Er schlafe auch zu Hause ohne Pyjama, erklärte seine Verteidigerin. Es treffe also zu, dass die Sekretärin*, die vor Gericht als Privatklägerin auftrat, den Anwalt im Büro nackt gesehen habe.
Blüttel-Anwalt freigesprochen
Angeklagt war der Mann jedoch nicht wegen Nacktheit am Arbeitsplatz, sondern wegen mehrfacher Ausnützung einer Notlage und Tierquälerei. Und von diesen Vorwürfen wurde der Anwalt vom Gericht freigesprochen – weil er diese Tatbestände nicht erfüllte.
Denn gemäss Strafgesetzbuch gehört zum Ausnützen einer Notlage, dass der Beschuldigte das Opfer veranlasst, eine sexuelle Handlung vorzunehmen oder zu dulden, indem er eine Abhängigkeit ausnützt. Und das Gericht sah es nicht als bewiesen an, dass die Entblössungen sexuelle Handlungen waren, die nur aufgrund des Abhängigkeitsverhältnisses geduldet wurden. «Es fehlte an einer verbotenen Handlungsweise», so der Richter.
Wäre der Mann des Exhibitionismus oder der sexuellen Belästigung beschuldigt worden, wäre das Urteil möglicherweise anders ausgefallen. Dies hatte die Staatsanwaltschaft jedoch nicht angeklagt – wohl auch, weil die Frau ihre Anzeige dafür zu spät eingereicht hatte.
Hund hat seine Genitalien abgeschleckt
Ebenfalls freigesprochen wurde der Mann vom Vorwurf der Tierquälerei. Hier habe sich der nackte Anwalt nicht falsch verhalten, als ihm im Dezember 2020 sein Hund die Genitalien abgeschleckt habe. Hier hatte die Verteidigerin des Mannes betont, dass er den leckenden Hund sofort mit der Hand weggedrückt habe und ihm die Situation peinlich war.
Im August 2020 hatte die Sekretärin ihre Stelle angetreten, obwohl sie im neuen Tätigkeitsfeld gar keine Erfahrung hatte. Der Lohn war mit knapp 2000 Franken pro Monat für ein Pensum von 60 Prozent spärlich. Dafür musste sich die Sekretärin um Post und Telefon kümmern, aber auch Kaffee servieren und die Toiletten in der Kanzlei putzen.
Der Anwalt und die Frau sind Nachbarn und kennen sich seit über zehn Jahren. Der Anwalt erzählte gestern, dass beide eine Faszination für Nacktheit teilten: «Es gab im Sommer 2020 einen Flirt zwischen uns beiden. Ich war sicher etwas verknallt in sie.» Nach seiner Schilderung waren die zwei mehrfach miteinander spazieren, wo sich beide auf einer Wiese der Kleider entledigten. Sie führten Gespräche zu Nacktwandern, Nudismus und Aktzeichnen. Bereits im Sommer 2020 hätten sie einander nackt gesehen – noch bevor es zur Anstellung kam.
Sie habe es als «obereklig» und «sehr beschämend» empfunden
Der Anwalt der Frau bestritt dies. «Es gab zu keinem Zeitpunkt einen Flirt», betonte er. Es habe nur nachbarschaftliche Kontakte gegeben. «Sie hat sich auch nicht nackt mit dem Beschuldigten in die Wiese gelegt.» Die Nacktheit ihres Chefs im Büro habe die Frau als «obereklig» und «sehr beschämend» empfunden.
Die Verteidigerin des Anwalts argumentierte, die Vorwürfe seien von der Staatsanwaltschaft dramatisiert worden. «Es war die Staatsanwältin, die der Privatklägerin das Wort ‹Masturbationsbewegungen› in den Mund gelegt hat», erklärte sie. Die Verteidigerin plädierte auf Freispruch und hatte Erfolg.
* Namen bekannt