Frau Ziltener, lange Schichten, Überstunden, ein massiver Fachkräftemangel und medizinisches Personal am Limit: Wie wirken sich die schwierigen Arbeitsbedingungen auf Patientinnen und Patienten aus?
Erika Ziltener: Eine Chefärztin erzählte mir, dass ihr nach 24 Stunden im Dienst ein Fehler passierte, weil sie müde war und sich schlecht konzentrieren konnte. Sie wandte sich an die Spitalleitung, musste dann aber selbst eine Lösung finden, um künftig kürzere Schichten zu haben. Für Aussenstehende ist es aber oft schwer zu sagen, welche Rolle die Arbeitsbedingungen bei Behandlungsfehlern spielen. Ich hatte beispielsweise den Fall einer Patientin, bei der die Pflege dreimal die Ärztin rief, doch diese kam nicht. Am nächsten Tag starb die Patientin. Vermutlich musste die Ärztin sich um andere Notfälle kümmern. Ich konnte nur feststellen: Hier gibt es ein systematisches Problem, welches das Spital dringend aufarbeiten muss.
Tun Spitäler genug, um diese Fehler aufzuarbeiten und aus ihnen zu lernen?
Im Gesundheitswesen gibt es oft keine ausreichende Fehlerkultur. Ein Problem ist die Hierarchiegläubigkeit. Eigene Fehler werden oft intern nicht gemeldet, aus Angst vor Konsequenzen. Man wagt auch nicht, Fehler des Vorgesetzten anzusprechen. Beispielsweise höre ich, dass Ärzte bei Operationen verbindliche Checklisten nicht sauber abarbeiten, obwohl diese das Risiko für Fehler minimieren. Doch niemand sagt etwas.
Auf welche Gefährdungen konkret reagieren die Spitäler nicht?
Um ein Beispiel zu nennen: Berichte von verschiedenen Institutionen zeigen uns, dass immer wieder Patienten verwechselt werden, zum Beispiel, weil bei Anmeldungen für Untersuchungen mehrere Akten gleichzeitig offen sind und dann die Anmeldung unbemerkt für die falsche Patientin erfolgt. Oft müssen mehrere Mitarbeitende IT-Arbeitsplätze teilen. Es gibt viele Empfehlungen, was die Spitäler tun können, um die Risiken zu minimieren. Doch wir stellen immer wieder fest, dass sich gewisse Spitäler nicht an die Empfehlungen halten. Ein Grund ist die Freiwilligkeit.
Was müssen die Spitäler, was der Gesetzgeber ändern?
Eine gute Fehlerkultur, die auf Vertrauen basiert, ist Chefsache. Die Spitalleitung muss klarmachen, es geht nach kritischen Ereignissen nicht darum: Wer ist schuldig? Sondern: Warum ist der Fehler passiert? Wie verhindern wir das in Zukunft? Die Mitarbeitenden müssen sehen, dass ihre Meldungen etwas bewirken. Manche Spitäler leben diese Kultur vorbildlich, in anderen steht die Angst im Vordergrund, dass etwas an die Öffentlichkeit gelangen könnte. Dort heisst es: Bei uns ist alles wunderbar, wem es nicht passt, der kann ja gehen. Ich fände es gut, wenn wir Spitalleitungen bestrafen, die keine Vertrauenskultur im Umgang mit Fehlern leben. Wenn nötig, braucht es Kontrollen und Sanktionen. Wenn interne Fehlermeldungen ein systematisches Problem aufzeigen, dann muss dieses behoben werden. Mit engagierten Personen bin ich an einem Vorschlag, wie das im Detail umgesetzt werden soll.
Viele Spitäler haben Angst vor Schadensersatzforderungen.
Es ist ja nicht so, dass jeden Morgen eine Anwältin ins Spital spaziert und wissen will, ob etwas schiefgegangen ist. In der Schweiz müssen die Patientinnen und Patienten erst beweisen, dass ein Fehler passiert ist und sie aufgrund des Fehlers einen Gesundheitsschaden erlitten haben. Verfahren sind aufwendig und teuer. Wer krank ist, dem fehlt auch oft schlicht die Kraft für ein aufreibendes Verfahren. Vielfach werden mögliche Behandlungsfehler daher gar nicht erst abgeklärt und die Patienten erfahren so auch nie, was genau mit ihnen passiert ist. Das ist aber nötig, damit die Patienten und Angehörige ihr Vertrauen ins Gesundheitssystem behalten und abschliessen können, unabhängig davon, ob ein Fehler passiert ist.
Sie haben während Ihrer Arbeit für die Patientenstelle Zürich viele Patienten betreut, die Behandlungsfehler vermuteten. Wie gingen die Spitäler damit um?
Leider werden Patientinnen oft abgespeist mit Sätzen wie: Wir haben alles richtig gemacht. Das mag auch oft stimmen, trotzdem müssen die Spitäler besser erklären, wie es zu Komplikationen kam. Wenn man sich an eine Patientenstelle wendet, fordert diese als Erstes die Krankenakte ein. Wenn die Akte sauber geführt ist, kann eine Fachperson anhand der Angaben oft nachvollziehen, wo etwas schiefgelaufen ist. Leider musste ich manchmal feststellen, dass Krankenakten an entscheidenden Stellen Lücken aufweisen. Einmal wurde gerade an der Stelle, in der es zu einem kritischen Moment bei einer Geburt mit Komplikationen ging, beim Kopieren ein Blatt über die Stelle gelegt.
Wie könnte man die Konflikte um Schadensansprüche entschärfen?
Meiner Ansicht nach sollten Spitäler nur für grössere Schadensummen eine Haftpflichtversicherung abschliessen. Bei Fällen, in denen es um weniger Geld geht, sollten sie Hand bieten für eine schnelle Einigung. Dafür sparen die Spitäler die Kosten für Gerichtsverfahren und Prämien, können Patienten aufreibende Verfahren ersparen und transparenter Auskunft geben darüber, was zu Komplikationen geführt hat.
In Ihrem Buch «Zwischen Sorge, Hoffnung und Vertrauen» erwähnen Sie eine Studie, laut der Menschen in Pflegeheimen bedenklich viele Medikamente erhalten.
Ich habe gerade aktuelle Berichte von Fachpersonen zur Überprüfung eines Pflegeheims gelesen. Dort haben alle Bewohnerinnen und Bewohner zehn bis 14 verschiedene Wirkstoffe am Tag bekommen, weil der Heimarzt und die Spezialärztin sich nicht abgesprochen haben. Das muss man sich mal vorstellen. Dabei ist es wegen der Wechselwirkungen gefährlich, viele Medikamente gleichzeitig zu nehmen.
Wie können Angehörige und Patientinnen für Ihre Sicherheit einstehen?
Generell sollte man sich möglichst gut informieren, immer kritisch bleiben und im Zweifelsfall eine Zweitmeinung einholen. Es kann helfen, vor grösseren Operationen jemanden zum Behandlungsgespräch mitzunehmen und sich genügend Zeit zu nehmen, um sich zu überlegen, ob man dem Eingriff zustimmt. Um das zu entscheiden, sollte man Fragen stellen: Gibt es mehrere Möglichkeiten? Was sind die Vor- und Nachteile? Wie wahrscheinlich sind diese? Was passiert, wenn ich nichts unternehme?