Papst-Historiker Volker Reinhardt zum Besuch des Pontifex diese Woche in der Schweiz
«Der Papst ist zur Propaganda verdammt»

Wie ist das Pontifikat von Franziskus einzuschätzen? Welche Bedeutung hat seine Genf-Visite? Und was unterscheidet ihn von seinen Vorgängern? SonntagsBlick fragte den besten Kenner des Vatikans.
Publiziert: 17.06.2018 um 15:38 Uhr
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Aktualisiert: 08.10.2018 um 23:24 Uhr
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Papst Franziskus am 16. Mai 2018 bei seiner wöchentlichen Audienz auf dem Petersplatz in Rom.
Foto: Keystone
Interview: Simon Marti und Marcel Odermatt

SonntagsBLICK: Herr Reinhardt, Ihr jüngstes Buch rollt die 2000-jährige Geschichte der Päpste auf. Wenn Sie an Franziskus denken: Wer besucht da kommenden Donnerstag die Schweiz?
Volker Reinhardt: Der Vertreter einer Institution, die nach ihrem Selbstverständnis die älteste Europas ist. Er ist der Gegenwart zu­gewandt, aber auch ein Mensch aus der Tiefe der Geschichte. Er will ein altes Erbe bewahren und dieses, wenn nötig, an veränderte Verhältnisse anpassen.

Welche Bedeutung messen Sie seinem Besuch in Genf bei?
Er besucht den Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf, das hat natürlich einen Geschmack! Genf war ab Mitte des 16. Jahrhunderts in den Augen Roms das Nest der Ketzer und der Reformator Johannes Calvin der Hauptfeind der katholischen Kirche. Ein Besuch des Papstes in Genf ist daher immer ein historisches Ereignis und ein Akt der Versöhnung.

Die Erwartungen an Papst ­Franziskus sind ­immens – nicht nur ­seitens der Katholiken. Sind sie berechtigt?
Das Papsttum versteht sich als eine göttliche Einrichtung, die über den vergänglichen politischen Gewalten steht. Wie jeder Papst muss sich auch Franziskus die Frage stellen, wo er den Anforderungen der Zeit entgegenkommen kann und wo ein Kompromiss sein Amt verraten würde. Diese rote Linie wird im Grossen von jedem Papst ähnlich gezogen. Im Kleinen aber gibt es einige Unterschiede.

Wie meinen Sie das?
Franziskus' Vorgänger Benedikt XVI. sah die rote Linie schneller überschritten.

Können Sie ein Beispiel geben?
Franziskus zeigte sich bei Glaubensinhalten liberaler. Benedikt XVI. war da viel strenger. Bis hin zu seinem Gewand. Er trug bewusst Gewänder des 16. und 17. Jahrhunderts. Daran wollte er erinnern. Nicht an die Scheiterhaufen, die damals loderten. Aber an eine verbindliche Kirche, in Abgrenzung zum «Anything goes» der Moderne.

Erinnerte er auch an die Machtfülle der Kirche dieser Zeit?
Ja, aber jeder Papst muss an den grossen Ansprüchen festhalten, auch ein liberaler Papst: Er ist oberster Richter der Kirche. Und er versteht sich als höchste moralische Autorität, die über den weltlichen Dingen steht. Bis ans Ende der Zeit.

Also kann die Inszenierung liberal oder menschlich daherkommen, die Agenda aber zutiefst konservativ bleiben?
Absolut. Johannes Paul II. war ein Mediengenie, vertrat aber ein konservatives Menschenbild. Ein König ist legitim, weil schon sein Vater auf dem Thron sass. Der Papst hat diese Legitimität nicht, er muss ein theologisch anspruchsvolles Konstrukt den Menschen nahebringen. Er ist zur Propaganda verdammt.

Wie löst Franziskus diese Aufgabe?
Sehr geschickt. Er präsentiert sich als Papst, der Verständnis hat für die Menschen, auf sie zugeht.

Doch damit schürt er die Hoffnungen auf ­Reformen.
Sicher. Aber die katholische Kirche hat den Anspruch, eine unveränderliche Wahrheit zu vertreten. Wie soll man diesen unveränderlichen Kern modernisieren? Es kann letztlich nur um Formfragen gehen, nicht um die Substanz.

Franziskus aber sagt, dass Homosexuelle nicht ausgegrenzt werden ­dürfen. Ist das eine blosse Formfrage?
Das ist keine lehramtliche Entscheidung. Aber damit werden grosse Erwartungen geweckt. Die katholische Kirche hat Homosexualität 1000 Jahre lang mit Feuer und Schwert verfolgt. Ein Entgegenkommen ist möglich, aber in Anbetracht konservativer Vorstellungen wohl leider nur zögerlich.

Sie lehren an der Universität Freiburg, während vielen Jahren die einzige katholische Uni der Schweiz. Die Katholiken hatten lange Mühe, sich im modernen Bundesstaat zu integrieren, sie fühlten sich benachteiligt. Welche Rolle spielten die Päpste beim Versuch der Katholiken, ihren Platz zu finden?
Eine grosse. Die Theologen aus Freiburg waren und sind in Rom immer hoch angesehen. Sie halfen auch dabei, die katholische Kirche zu öffnen, gerade mit Blick auf die Arbeiterfrage. So wurden Feindbilder abgebaut, man sah, dass sich Rom eben doch bewegen konnte.

Spürt man heute noch ­etwas vom Kulturkampf in der Schweiz?
Ich stelle meinen Studierenden jeweils eine Frage: Können Sie einen Unterschied zu Ihrem Kollegen feststellen, der eine andere Konfession hat als Sie? Vor zehn Jahren war dies noch der Fall. Heute tendiert es gegen null. Trotzdem denke ich, dass Reli­gion wieder eine wichtigere Rolle spielt als früher.

Das heisst?
Das Bedürfnis nach Übernatürlichem, Spirituellem ist gross. Aber heute mixt man sich wie aus dem Supermarktregal seinen eigenen Glauben zusammen. Das musste auch Papst Benedikt XVI. einsehen.

Und trat zurück.
Ja, die Menschen lassen sich nicht mehr sagen, was sie glauben müssen. Das hat Papst Benedikt XVI. ­sicher frustriert. Beim Konzil in Trient von 1560 hiess es: «Das müsst ihr um eures Seelenheils willen glauben, sonst seid ihr verdammt.» Dies ist heute nicht mehr vermittelbar.

Die Kirche hat vieles überstanden. Ist diese ­Säkularisierung ihre grösste Prüfung?
Sicher ist es eine sehr grosse Prüfung. Aber das gab es schon immer. Das war sicher auch so, als Martin Luther auftauchte (lacht). Anders als ein Politiker kann ein Papst auch nicht einfach seinen Vorgänger kritisieren und behaupten, der habe alles falsch gemacht. Denn das widerspräche dem Selbstverständnis der katholischen Kirche dia­metral.

Heute punktet Papst Franziskus vor allem auch mit seiner Kapitalismuskritik. Seine Aussage: «Diese Wirtschaft tötet», freute viele Linke.
Was heute Organisationen wie Attac sagen, sind Positionen, die die katholische Kirche schon lange vertritt. Als im 18. Jahrhundert die Idee aufkam, dass freier Handel eine Menschheits­beglückung sei, widersprachen die Päpste. Sie waren sozusagen die ersten Globalisierungskritiker.

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