Auf den Gängen des Justizpalastes von Reggio Calabria stapeln sich die Gerichtsakten meterhoch. Hunderte Gerichtsschreiber, Richter, Sicherheitsleute und Polizisten arbeiten in dem riesigen, sechsstöckigen Gebäude aus Glas und rotem Marmor. Im Kampf gegen das Verbrechen stehen sie auf verlorenem Posten. Noch heute, so schätzt die italienische Anti-Mafia-Behörde, verdienen 27 Prozent der Kalabresen ihr Einkommen durch die hiesige Variante der Mafia, die ’Ndrangheta.
Der juristische Vorposten im Kampf gegen die weltweit grösste kriminelle Organisation ist im sechsten Stock des Justizpalastes untergebracht. Die Anti-Mafia-Abteilung hat ihren Sitz in einem speziell abgeschotteten und gesicherten Stockwerk.
Über eine spezielle Treppe gelangt man in den Vorraum, der von drei bewaffneten Carabinieri bewacht wird.
Hier liegen die Akten zum grössten Mafia-Prozess, der je gegen eine Schweizer Gruppe geführt wurde. Ihren letzten Wohnsitz hatten die Angeklagten in Frauenfeld oder Weinfelden TG, jetzt sitzen sie in Reggio Calabria oder Mailand im Gefängnis.
Den Gang zu den Büros der Richter sichert zusätzlich ein bewaffneter Wachmann. Davor herrscht reges Kommen und Gehen.
Gerade führen vier Carabinieri zwei mit Handschellen gefesselte Männer herbei. Nach kurzer Absprache mit dem Wachmann werden sie in einen Nebenraum geführt. In der Ecke warten mehrere Anwälte, bis sie zum Richter vorgelassen werden.
Es sind die Rechtsvertreter der Mafiosi von der Thurgauer ’Ndrangheta-Zelle. Sie wollen wissen, in welchem Gerichtssaal und um welche Zeit die auf heute angesetzte Verhandlung durchgeführt wird. Für das vorinstanzliche Gericht entscheidet Nicolò Marino (57) darüber, ob die Fälle an das Gericht in Dreierbesetzung weitergereicht werden.
«Wir sind 20 Jahre im Rückstand»
Richter Marino stammt ursprünglich aus Sizilien. «In Kalabrien», so sagt er, «sind wir bei der Bekämpfung der Mafia 20 Jahre im Rückstand.» Marino ist es, der später an diesem Tag die Verhandlung gegen die Thurgauer Mafiosi leitet.
Pünktlich um 10.30 Uhr eröffnet er in Saal 2 des Justizgebäudes die Sitzung. Fünf Mitglieder der Frauenfelder Zelle waren zuvor mit Handschellen gefesselt und aneinandergekettet in den Saal geführt worden. Erst als die Tür des Gitterkäfigs geschlossen ist, aus dem sie die Verhandlung stumm beobachten, nehmen ihnen die Wärter die Fesseln ab.
Es ist der erste Prozesstag des helvetischen Falls. Mehrmals war er zuvor verschoben worden, weil die Angeklagten in der Schweiz ihre Auslieferung angefochten hatten. Im Oktober wurden die letzten schliesslich nach Italien überstellt.
Von 18 ursprünglich angeklagten Thurgauer Mafiosi stehen in Kalabrien noch 13 vor Gericht – von denen wiederum wurden fünf dem Richter persönlich vorgeführt – acht per Video zugeschaltet, die im «Opera» sitzen, einem Hochsicherheitsgefängnis südlich von Mailand.
Rund zwei Stunden sprachen die Anwälte zur Verteidigung ihrer Klienten. Die Treffen im Frauenfelder Boccia-Club seien Essen unter Freunden gewesen, keine Mafia-Treffen. So sei zum Beispiel auf einer der insgesamt 24 Videoaufnahmen zu sehen, wie eine Frau in die Versammlung platze und sich mit einem der Männer auf Deutsch unterhalte.
«Das sieht für mich nicht wie ein geheimes Mafia-Treffen aus», so der Anwalt. Zwei Stunden hört Richter Marino geduldig zu, unterbricht nur, wenn er etwas nicht verstanden hat. Dann, kurz vor Mittag, unterbricht er die Verhandlung und setzt einen neuen Termin im Dezember an – dann soll der Prozess fortgesetzt werden.
Von den 18 Angeklagten fehlten am Montag zwei vor Gericht, weil sie nicht ausgeliefert werden konnten – sie sind Schweizer Staatsbürger. Neben M. C. (46) auch Luigi S. aus Frauenfeld. Im Gespräch mit SonntagsBlick schilderte S. im März, wie er in die Thurgauer ’Ndrangheta-Gruppe geraten war – obwohl er gar nicht aus Kalabrien stammt: «Ich traf mich mit meinen Landsleuten zum Briscola-Spielen», dem italienischen Pendant zum Jass.
20 Franken Mitgliederbeitrag habe Luigi S. gezahlt. Danach sei er zu den Treffen im Boccia-Club nach Wängi eingeladen worden. Die Treffen am letzten Sonntag im Monat seien irgendwann zur Pflicht geworden. So sei er in die Mafia-Zelle von Frauenfeld geraten. «Etwas verbrochen habe ich allerdings nicht», so der Angeklagte damals.
Transparenz ist ein Fremdwort
Sein Anwalt Stefan La Ragione (56) vertritt Luigi S. sowohl in der Schweiz wie in Italien. Die dortige Justiz arbeite wenig transparent, die Abläufe seien aufwendig und verwirrend – ein regelrechter Justiz-Irrsinn.
Mehrmals habe er bereits an Verhandlungen teilgenommen. «Der Prozessablauf ist kafkaesk», so La Ragione. Immerhin hat er für seinen Mandanten nun einen Teilsieg erwirkt: Das Verfahren gegen Luigi S. wurde inzwischen von dem gegen die anderen Mitglieder der Frauenfelder Zelle entkoppelt und sistiert, erklärt La Ragione.
Wann über seinen Mandanten geurteilt werde, könne er nicht sagen. Auch welches Gericht zuständig sein werde, sei noch unklar. Möglich ist, dass der Prozess von Reggio Calabria ans Strafgericht in Locri überwiesen wird.
Das Urteil von dort, wo es Ende Juni zu einem Freispruch kam, worauf N. M. (68) auf freien Fuss gesetzt wurde, liegt SonntagsBlick vor.
Mit Blick auf die Entscheidung aus Locri sagt La Ragione: «Mein Mandant steht einem Freispruch näher als je zuvor.» Er sei von dessen Unschuld nach wie vor überzeugt.
Als einzige Angeschuldigte aus der Frauenfelder Zelle wurden bisher Antonio N. (68) und Raffaele A. (77) in erster Instanz verurteilt – sie erhielten zwölf und 14 Jahre Haft. Das war im Herbst 2015. Ihr Revisionsprozess ist nun für den kommenden 23. November angesetzt. Bis die Richter ihr letztes Urteil über sämtliche angeblichen Mitglieder der Frauenfelder Mafia-zelle gesprochen haben, könnte es deshalb wohl noch längere Zeit dauern.