Die Vorwürfe sind heftig. Im März 2013 meldet sich eine Frau bei der Thurgauer Polizei und behauptet: Ihr Ex-Ehemann Peter E.* missbrauche die gemeinsame Tochter. Das Mädchen (damals 4) habe ihr schlimme Dinge anvertraut. Es sind Aussagen wie: «Mami, weisch, dä Papi tuet immer am Fudi schlecke» oder «Dä Papi macht so komischi Grüsch und denn isch's Pfiifeli ganz härt!»
E. machte ohne Anwalt ungünstige Aussagen
Der mutmassliche Kinderschänder kommt ins Visier der Staatsanwaltschaft von Kreuzlingen TG. Diese eröffnet ein Strafverfahren wegen sexueller Handlungen mit einem Kind sowie Schändung. E. wird im Auftrag der Staatsanwaltschaft festgenommen und am gleichen Tag verhört – ohne Anwalt! Obwohl ihm bei einer Verurteilung bis zu zehn Jahre Haft drohen könnten.
Peter E. macht ungünstige Aussagen. Erst tags darauf sucht er sich mit Otmar Kurath (53) einen Verteidiger. Dass er auch einen Anwalt von der Pikett-Liste hätte beziehen können, sagt ihm im Verhör niemand.
Kurath ist schockiert: «Mein Mandant hätte von Beginn weg zwingend einen Verteidiger gebraucht. Das ist obligatorisch, wenn eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr droht.» Die Strafprozessordnung bestätigt das.
In einer Aktennotiz vom 21. März 2013, die BLICK vorliegt, kommt die Staatsanwaltschaft trotzdem zu einem anderen Schluss. Darin heisst es, der bisher bekannte Sachverhalt sei dem Oberstaatsanwalt-Stellvertreter und Generalstaatsanwalt Hansruedi Graf (63) geschildert worden. Beide seien der Meinung, dass die Freiheitsstrafe für den Beschuldigten bei einer Verurteilung unter einem Jahr liegen dürfte. «Ergo liegt zum jetzigen Zeitpunkt kein Fall von notwendiger Verteidigung vor», endet die Notiz.
Geht der Fall nun bachab?
Das könnte eine fatale Fehleinschätzung sein. Im Mai verfügt das Thurgauer Obergericht, dass die umstrittene Polizeibefragung ohne Anwalt unter Verschluss gehalten werden muss und nicht verwendet werden darf. Die Staatsanwaltschaft zieht den Fall demnächst vor Bundesgericht. Dazu kommt: Ein Glaubwürdigkeitsgutachten zu den Videoaussagen der Tochter fiel vernichtend aus: Die befragende Polizistin habe unzulässig auf das Kind eingewirkt.
Weil E. anschliessend mit Pflichtverteidiger Kurath an seiner Seite stets die Aussage verweigerte, hat die Justiz sonst nichts mehr in der Hand. Gibt ihm auch das Bundesgericht recht, bricht der Fall zusammen. Ein jahrelanges Verfahren wäre für die Katz – unabhängig von der Wahrheit in dieser Geschichte.
Bei der Staatsanwaltschaft selbst möchte man sich mit Verweis auf das laufende Verfahren zur Sache nicht äussern.
* Name von der Redaktion geändert
Peter E.* hat erst nach einer verhängnisvollen Befragung einen Anwalt kontaktiert – wohl auch aus juristischem Unwissen. Die Behörden könnten versucht haben, denn Mann im Überraschungsmoment zu schwerwiegenden Aussagen zu provozieren.
«Ich erachte das als äusserst problematisch», sagt Strafverteidiger Valentin Landmann. «Im Schrecken über eine schwere Beschuldigung kann auch ein braver Bürger kompletten Quatsch erzählen.»
«Der Anwalt ist kein Saboteur»
Gerade Unschuldige würden mit der Angst im Rücken mehr zugeben, als sie eigentlich müssten. Und sich dabei auch in Widersprüche verstricken.
Umso wichtiger sei es, dass der Beizug eines Verteidigers von den Behörden nicht als Behinderung erachtet würde.
Landmann: «Der Anwalt ist kein Saboteur. Die meisten von uns wollen sinnvoll daran mitwirken, einen Fall vorwärts zu bringen.» | Marco Latzer
Peter E.* hat erst nach einer verhängnisvollen Befragung einen Anwalt kontaktiert – wohl auch aus juristischem Unwissen. Die Behörden könnten versucht haben, denn Mann im Überraschungsmoment zu schwerwiegenden Aussagen zu provozieren.
«Ich erachte das als äusserst problematisch», sagt Strafverteidiger Valentin Landmann. «Im Schrecken über eine schwere Beschuldigung kann auch ein braver Bürger kompletten Quatsch erzählen.»
«Der Anwalt ist kein Saboteur»
Gerade Unschuldige würden mit der Angst im Rücken mehr zugeben, als sie eigentlich müssten. Und sich dabei auch in Widersprüche verstricken.
Umso wichtiger sei es, dass der Beizug eines Verteidigers von den Behörden nicht als Behinderung erachtet würde.
Landmann: «Der Anwalt ist kein Saboteur. Die meisten von uns wollen sinnvoll daran mitwirken, einen Fall vorwärts zu bringen.» | Marco Latzer