Die Regierung des Kantons St. Gallen hat im Oktober dieses Jahres ein Disziplinarverfahren gegen die Gemeinderatsmitglieder von Walenstadt SG eröffnet. Doch das ist nicht die einzige dunkle Wolke, die über der Behörde schwebt.
Was niemand weiss: Bereits am 2. Februar 2022 hatte die Anklagekammer des Kantons St. Gallen der Staatsanwaltschaft eine Ermächtigung erteilt, eine Strafuntersuchung gegen sämtliche Mitglieder des Gemeinderats Walenstadt eröffnen zu können! Auch gegen den Gemeindepräsidenten und den Gemeinderatsschreiber. Und zwar soll die Staatsanwaltschaft wegen Amtsmissbrauchs, Urkundenfälschung im Amt sowie Urkundenunterdrückung ermitteln, wie der Entscheid zeigt, der Blick exklusiv vorliegt. Für alle Beteiligten gilt die Unschuldsvermutung.
Im Kanton St. Gallen setzt eine Strafuntersuchung gegenüber Behördenmitgliedern eine Ermächtigung der Anklagekammer voraus. Heisst konkret: Wenn jemand einen Mitarbeiter, eine Mitarbeiterin des Kantons – etwa einen Polizisten oder eine Steuerbeamtin – anzeigt, dann landet der Fall zuerst bei der Anklagekammer, die dann über das weitere Vorgehen entscheidet. In 80 bis 85 Prozent der Fälle erteilt diese laut deren Präsident allerdings keine Ermächtigung zur Strafuntersuchung.
Corpus delicti ist eine Stützmauer
Stein des Anstosses in Walenstadt ist das Verhalten des Gemeinderats gegenüber dem Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen sowie dem Bundesgericht. Es geht um eine widerrechtlich erstellte Stützmauer, um die seit Jahren gestritten wird. Denn die Mauer ist zu hoch und tangiert die Liegenschaft der Familie Ghaemmaghami.
«Die mehrere Meter hohe Stützmauer wurde 1998 errichtet – im Grenzbereich zur Parzelle, die in unserem Eigentum ist», sagt Payám Ghaemmaghami (42). Anlässlich einer Baukontrolle stellte die Gemeinde Walenstadt schon damals fest, dass die Mauer von den bewilligten Plänen abweicht.
Doch: Passiert ist nichts. Bis heute, 24 Jahre später. Und das, obwohl das Baudepartement, das kantonale Verwaltungsgericht sowie das Bundesgericht zwischen 2010 und 2021 in mehreren Entscheiden das Recht zugunsten der Ghaemmaghamis ausgelegt hat! Das Verdikt war immer dasselbe: Die Höhenabweichung bis zu 1,70 Meter, die fehlende Rückversetzung des obersten Satzes Steine, der unbewilligte ein Meter hohe Zaun auf der Mauer sowie die Grenzverletzung von bis zu 40 Zentimeter können nicht als geringfügig bzw. unbedeutend qualifiziert werden.
Die Gemeinde Walenstadt wurde darum von allen Instanzen angewiesen, die Wiederherstellung des rechtmässigen Zustands der Stützmauer anzuordnen. Jedes Mal hiess es von Seite der Gemeinde allerdings von neuem: Die Mauer kann bleiben, wie sie ist. Oder – zuletzt – sie müsse nur geringfügig korrigiert werden.
«Gemeinde hält an rechtswidrigem Entscheid fest»
2016 schaltete die Familie Ghaemmaghami darum das erste Mal die Strafverfolgungsbehörden ein – gegen den damaligen Gemeinderat. Schon damals erteilte die Anklagekammer des Kantons St. Gallen der Staatsanwaltschaft die Ermächtigung, eine Strafuntersuchung zu eröffnen. Erst vier Jahre später, im Februar 2020, erhob die Staatsanwaltschaft Anklage beim Kreisgericht Werdenberg-Sarganserland gegen drei der damals beteiligten Gemeinderatsmitglieder wegen Amtsmissbrauchs. Darunter befindet sich auch ein heutiger SVP-Kantonsrat. Auch gegen den ehemaligen Gemeindepräsidenten hat die Staatsanwaltschaft wegen Verletzung des Amtsgeheimnisses Anklage erhoben. Heute, mehr als zweieinhalb Jahre später, ist das Verfahren noch immer hängig. Nun läuft also bereit das zweite Verfahren – gegen den aktuellen Gemeinderat.
Für die Familie Ghaemmaghami ist das Verhalten der Gemeinde unverständlich: «Es ist eigentlich eine ganz simple Sache. Die Gerichte haben klar festgestellt, was zu ändern wäre. Sie haben sogar eine Anleitung zur Korrektur erlassen. Nur die Gemeinde Walenstadt hält an dem rechtswidrigen Entscheid fest», sagt Páyá Ghaemmaghami (33).
In diesem Fall scheint es allerdings um mehr zu gehen als Eigentumsschutz, Rechtsgleichheit und Rechtsstaatlichkeit. Es stellen sich nämlich auch Fragen zur Befangenheit der Behörden. Denn, so zeigt sich: Die Tochter des amtierenden Gemeindepräsidenten etwa ist im regionalen Bauunternehmen des Mauereigentümers angestellt. Und die Mauereigentümerin ist als Fachrichterin bei der Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen in der Abteilung Kindes- und Erwachsenenschutz einschliesslich fürsorgerische Unterbringung tätig.
Gemeinde will Ersatzbehörde einsetzen
Anstatt die Mauereigentümer zur Korrektur der Mauer zu verpflichten, beantragte der Gemeinderat Walenstadt am 4. April 2022 beim Departement des Innern des Kantons St. Gallen, für die Anordnung der Korrektur der Mauer sei eine Ersatzbehörde einzusetzen. Die Begründung: Der Gemeinderat sehe sich nicht in der Lage, das Geschäft objektiv, unabhängig und unbefangen zu behandeln. «Das zeigt: Es mangelt in Walenstadt an wirksamer Aufsicht. Und wo Amtsmissbrauch herrscht, kann man noch so oft vor Gericht gewinnen, es ändert sich nichts. Walenstadt hat ein massives rechtsstaatliches Problem», sagt Payám Ghaemmaghami.
Kommt hinzu: Die hartnäckigen Bemühungen des Gemeinderats, den rechtswidrigen Zustand der Mauer beizubehalten, gehen auf Kosten der Steuerzahler. «Steuergelder werden durch den Gemeinderat so also zweifellos nicht bestimmungsgemäss eingesetzt», sagt die Familie Ghaemmaghami, die eine eigene Anwaltskanzlei führt. Das stelle die hohe Besoldung der Gemeinderatsmitglieder infrage.
Denn aktuell läuft in der Gemeinde auch eine Diskussion über die Behördenlöhne. Am 8. April 2022 erteilte die Bürgerversammlung von Walenstadt dem Gemeinderat und der Geschäftsprüfungskommission nämlich einen Auftrag: Sie sollen die Besoldung der Behördenmitglieder überprüfen. Die Kritik aus der Bevölkerung: Deren Löhne seien zu hoch. Der Gemeindepräsident und der Gemeinderat rechtfertigten diese mit «hoher Leistungsbereitschaft» – im Wissen darum, dass gegen sie bereits eine Strafuntersuchung läuft.
Notabene: Der Gemeindepräsident von Walenstadt soll für das Jahr 2021 samt Spesen rund 236'000 Franken erhalten, was in etwa der Besoldung des Stadtpräsidenten von Luzern entspricht, mit einer um das Sechszehnfache grösseren Bevölkerung als Walenstadt.
Blick hat den Gemeinderat Walenstadt mit allen Vorwürfen konfrontiert. Dieser wollte sich nicht äussern und verweist auf das Amtsgeheimnis.
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