«In unserem reichen Sozialstaat fehlt die Menschlichkeit»
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Manuela G. ist wütend:«In unserem reichen Sozialstaat fehlt die Menschlichkeit»

Manuela G. (57) muss für unerreichbare Frühpensionierung bezahlen
Happige Vorsorge-Abzüge – aber Gipserin sieht davon keinen Rappen

Manuela G. aus dem oberen Rheintal fühlt sich mies behandelt. Obwohl sie vor fünf Jahren auf dem Bau anfing, um der Arbeitslosigkeit zu entgehen, wird sie nun dafür bestraft. Sie muss für ihre Frühpension bezahlen, ohne je etwas von dem Geld wiederzusehen.
Publiziert: 03.10.2022 um 00:13 Uhr
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Aktualisiert: 03.10.2022 um 06:32 Uhr
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Unzählige Briefe und E-Mails musste Manuela G. schon schreiben. Genützt hat es nichts.
Foto: Sandro Zulian
Sandro Zulian

«Mich reut dä Cholä!», sagt Manuela G.* (57) sichtlich aufgebracht. Vor fünf Jahren rutschte die ehemalige Dentallaborantin nach einem Wohnortswechsel vom Aargau ins obere Rheintal in die Arbeitslosigkeit. «In diesem Alter nimmt dich keiner mehr», sagt G. enttäuscht. Trotz Kursen des Arbeitsvermittlungszentrums und vieler Bewerbungen wollte es mit einer neuen Stelle in ihrem Beruf nicht klappen. Deshalb traf sie schliesslich die mutige Entscheidung, als Gipserin im Baugeschäft ihres Partners einzusteigen. «Ich wollte arbeiten und nicht dem Staat auf der Tasche liegen» – im Wissen darum, dass ein harter Branchenwechsel auf sie wartete.

«Ich konnte nichts! Ich wusste nicht, was eine Stichsäge ist, habe noch nie mit einer Flex geschnitten und kannte die Namen der verschiedenen Hämmer nicht.» Für ihren Partner sei ihre Anstellung anfangs darum ein Minusgeschäft gewesen. Trotzdem liess sich Manuela G. nicht unterkriegen und kämpfte sich in wenigen Jahren zur akzeptierten Gipserin auf den Baustellen hoch.

Heutzutage gehört das Spitzen, das Fliesenlegen und das Spachteln zu ihrem Alltag. «Mittlerweile macht es mir auch richtig Spass!», sagt sie. Dass sie sich in dieser Männerdomäne behaupten kann, erfüllt sie mit Stolz. Wäre da nicht ein monatlicher Lohnabzug, der G. immer wieder aufs Neue ärgert.

«Das macht mich so hässig»

Gipserinnen und Gipser sind verpflichtet, monatlich Geld für das Vorruhestandsmodell des Maler- und Gipserunternehmerverbandes einzuzahlen. Im Normalfall würde das den Arbeitnehmenden ermöglichen, bereits mit 59 Jahren ohne grosse Lohneinbussen ihre Arbeitszeit reduzieren zu können. Im Alter von 62 Jahren schliesslich können sie sich frühpensionieren lassen. Finanziert wird das sowohl von den Gipserinnen und Gipsern via Lohnabzug, als auch von den Arbeitgebern.

Bloss: Manuela G. wird sich in dieser Branche nie frühpensionieren lassen können. Denn dafür müsste sie 15 Jahre lang als Gipserin tätig gewesen sein – das ist eine der Anspruchsvoraussetzungen. G. war zu alt, als sie die Branche wechselte. «Ich kann nachvollziehen, dass ich in diesem Punkt vielleicht Pech gehabt habe – aber was mir wirklich sauer aufstösst, ist, dass ich trotzdem verpflichtet bin, jeden Monat Lohnabzüge für ein Vorruhestandsmodell hinzunehmen.»

G. hat alles versucht, um sich davon zu befreien. Immerhin verliert sie so bis zu ihrer ordentlichen Pensionierung mehrere Tausend Franken – «zusammen mit meinem Partner, der als Arbeitgeber ebenfalls verpflichtet ist, für mich in das Modell einzuzahlen, verlieren wir rund 9000 Franken für nichts und wieder nichts!», so G. Alle Beschwerdebriefe, die sie an das Bundesamt für Wirtschaft (Seco) und den Maler- und Gipserverband schrieb, nützten nichts.

Branchenverband: «Das ist bedauerlich»

Das bestätigt auch Verbandssprecher Raphael Briner gegenüber Blick. Und erklärt es damit, dass man mit G. einen wohl einzigartigen Fall habe. «G. ist erst mit 52 Jahren in den Beruf eingestiegen: Das ist gerade im Maler- und Gipsergewerbe sehr aussergewöhnlich und wird vom Vorruhestandsmodell nicht berücksichtigt.»

Der Verband anerkennt allerdings die verzwickte Lage, in der sich G. befindet: «Dass aufgrund des hohen Eintrittsalters diese Arbeitnehmerin trotz der Beitragspflicht nicht in den Genuss des Vorruhestandsmodells kommen wird, ist bedauerlich. Wir wissen, dass es Einzelfälle gibt, die durchs Netz fallen, weil sie die Bedingungen nicht erfüllen.» Aber wie andere Branchenlösungen basiere das Modell auf dem Solidaritätsprinzip.

Für G. heisst das: Weiter schuften und für etwas einzahlen, das allen anderen Gipserinnen und Gipsern eine frühe Rente ermöglicht, nur ihr nicht. «Ich kann nur hoffen, dass mein Körper die harte Arbeit auf den Baustellen bis 65 mitmacht.»

* Name der Redaktion bekannt

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