Nicht mal der Napoleon konnte es richten!», sagt der Dialektforscher und Linguist Christian Schmid. Und zwar, dass der Rest der Schweiz so gern über den Ostschweizer Dialekt spottet. Schon 1988 singt der Rocker Boni Koller mit Baby Jail: «D Sanggaller schtönd scho z Rapperswil» – und beklagt die spitzen «Iiii», die man in Zürich hören müsse.
Dabei, sagt Schmid: «Der Spott hat mit dem Dialekt gar nichts zu tun!» Das Spotten über die Ostschweiz sei historisch begründet: «Über Jahrzehnte haben fremde Westschweizer Vögte die Ostschweiz steuerlich ausgepresst – und darum verspottet. 1798 organisiert Napoleon die Schweizer Gebiete neu – der Spott aber hat sich etabliert und bleibt.» Spiele man den Dialekt Ausländern vor, hören sie ihn aber genauso gern wie etwa Bärndütsch.
Heute hat sich das Blatt gewendet – die Schweiz lacht nicht mehr über, sondern wegen der Ostschweiz. Denn sie stellt in jüngster Zeit viele der besten Komiker, Slammer und Kleinkünstler: An Manuel Stahlberger – dem Kleinkünstler und Musiker mit nationaler Ausstrahlung – kommt schon länger niemand mehr vorbei. Er räumt auch schon mal den renommiertesten Kleinkunstpreis des deutschsprachigen Raums ab, nämlich 2009 den Salzburger Stier – genauso wie 2007 der Appenzell Innerrhoder Kabarettist Simon Enzler. Und in jüngster Zeit kommt noch viel mehr: In der SRF-Show «Late Update» gilt Renato Kaiser (33) aus St. Gallen als Highlight der Sendung. Auf den Stand-up-Bühnen macht Frank Cabrera Hernandez unter dem Namen Kiko von sich reden, der auch als Youtuber und – «Achtung, Ironie», wie er sagt – «Ostschweizer Gangsta-Rapper» Erfolge feiert. Von den Bühnen der Slamszene kommen Lara Stoll, Gabriel Vetter, Etrit Hasler und viele weitere dazu.
Bands aus dem Osten boomen
Auch musikalisch läuft viel: Seit zwei, drei Jahren spielen Radiostationen Ostschweizer Bands rauf und runter. Dachs etwa, die mit dem harmonisch zuckertriefenden, dabei aber vom plötzlich fiesen Text unterminierten Song «Pfluumebaum» einen Hit gelandet haben. Die St. Galler Band Velvet Two Stripes spielt mit ihrem Indierock sämtliche wichtigen Festivals. Aus Schaffhausen stammt die Band The Gardener & The Tree, die mit ihrem eigenwilligen Indiepop schon 2014 vom SRF als «Best New Talent» ausgezeichnet wird. Oder Jack Stoiker. Der Sänger mit Kultstatus hat mit seiner Punkband Knöppel laut einer letztjährigen Umfrage des SRF mit dem Song «Prada» – und dem keinesfalls druckbaren, dafür umso lustigeren Text – den «besten Rocksong aller Zeiten» der Schweiz geschrieben. Auch in der Literatur liegt die Ostschweiz vorn: Der letztjährige Buchpreis ging an Peter Stamm, einen Thurgauer. Die Liste der Preis-Abräumer aus der Ostschweiz ist lang. Ihnen allen ist ein furztrockener, hintersinniger Humor zu eigen. Wohin man blickt, scheint es:
Die Ostschweiz ist das neue Cool.
Sie muss es mancherorts nur noch selber merken, wie ein Augenschein zeigt. Wir beginnen in Winterthur, eigentlich im Kanton Zürich gelegen, aber «die Hauptstadt von Thurgau – im Heimatkanton läuft ja nichts», sagt Martina Hügi (33). Hügi ist eines der vielen jungen, komischen Talente aus der Poetry-Slam-Szene, die gerade von sich reden machen. Wir sind nach ihrem ersten Satz schon mitten in der Misere einiger junger Ostschweizer. «Im Thurgau war es so langweilig, dass man seine Unterhaltung selber machen musste», sagt sie. Die Heilpädagogin hat denn auch im Keller der Studentenverbindung ihr komisches Talent entdeckt, an der Pädagogischen Maturitätsschule Kreuzlingen, abgekürzt PMS. Zitat Hügi: «Man muss im Thurgau bluten, wenn man Lehrer werden will.» PMS steht abgekürzt auch für das Prämenstruelle Syndrom.
Kiko, der Gangster-Rapper aus St. Gallen
In St. Gallen treffen wir Kiko. Er kreuzt mit seinem Bruder Boris auf, mit dem er als Gangsta-Rap-Duo Kiko & Boro bekannt wurde. Im Schlepptau haben sie Gabirano, den Schweizer Youtube-Star der Stunde. Sie sind auf dem Weg in ihr eigenes Studio. Kiko sagt über die Ostschweiz dasselbe wie Hügi: «Da ischs so langwiilig, muesch alles selber mache – oder schnell abhaue!»
Es bluten also nicht nur die angehenden Lehrer, sondern vielmehr die Ostschweizer Kantone selbst: Wer etwas Interessantes macht, zieht weg. Ganz offiziell beklagen viele Politiker und Kulturfachleute aus Appenzell, Thurgau und Schaffhausen einen Braindrain, frei übersetzt Gehirnabfluss, aus der Region. Der Kanton St. Gallen, mit der Stadt ist er das Zentrum der Region, führt gar eine Braindrain-Statistik – von allen in St. Gallen ausgebildeten Hochschulabsolventen bleiben in den letzten Jahren nur rund die Hälfte. Und die anderen Ostschweizer Kantone haben nur ein sehr beschränktes Angebot an Fachhochschulen. Die meisten, die eine Hochschulbildung anstreben, wandern schon vor Beginn der Ausbildung ab.
Das haben Schaffhausen, die beiden Appenzell, Thurgau und St. Gallen erkannt – und versu-chen, entgegenzuwirken. Thomas Scheitlin (65), FDP-Stadtpräsident von St. Gallen, verweist denn auch stolz auf verschiedene Projekte zur Wirtschaftsförderung – etwa das Innovationsnetzwerk Startfeld. Es ermöglicht mit einem Kapital von fünf Millionen Franken unter anderem die Begleitung und Finanzierung von Start-ups und Unternehmen – und vergibt gemeinsam mit der St. Galler Kantonalbank jährlich einen Preis für das innovativste Start-up. Unter anderem entstehen so Drohnen für Wetterprognosen und anderes im Bereich der Digitalisierung und der Robotik. Ähnliche Programme laufen in allen Ostschweizer Kantonen – und sie tragen erstens Rechnung und passen zweitens so gar nicht zum bäuerlichen Süessmoscht und Appezöller-Bier-Klischee: Im Thurgau etwa entwickelt das Start-up jAmaze eine neue Hologrammtechnik. In Schaffhausen ist mit Acronis eines der weltweit führenden Unternehmen im Bereich Cybersecurity ansässig, und in Appenzell Innerrhoden entwickelt die Prodartis einen neuen 3-D-Drucker. Wirtschaftlich läuft also trotz des beklagten Braindrains einiges.
Längst kein «Entwicklungsland» mehr
Und kulturell? Ein Augenschein vor Ort in St. Gallen zeigt: Im Zentrum der Ostschweiz kann von «kulturellem Entwicklungsland» nicht die Rede sein. Es läuft viel – aber vor allem aus Eigeninitiative. Im Palace etwa finden Konzerte, Lesungen und Diskussionsveranstaltungen statt, welche als «Die erfreuliche Universität» benamst sind. Ein Seitenhieb auf die wirtschaftswissenschaftlich ausgerichtete Hochschule St. Gallen (HSG) –, wo Geisteswissenschaften wie Soziologie oder Philosophie, die sich mit den grossen Fragen der Menschheit auseinandersetzen, nicht gelehrt werden.
Auch das wegweisende Kultur-Magazin «Saiten», das dieses Wochenende 25-jähriges Jubiläum feiert, ist selbständig: Ohne jegliche Förderung erstellt die kleine, unabhängige Redaktion ein sorgfältig gemachtes Kulturmagazin mit überregionaler Ausstrahlung – und verzichtet dafür auf einen marktüblichen Lohn. Wenig Geld, dafür viel Kreativität zeichnet sie aus – und das trägt Früchte: Ein grosser Teil der St. Galler Kulturmacher der letzten Jahre stammen aus dem «Saiten»-Umfeld: Der ehemalige Kolumnist Milo Rau etwa, der als Theatermacher Erfolge feiert, oder Ex-Redaktor Frédéric Zwicker, der mit seinem Roman «Hier können Sie im Kreis gehen» 2016 Erfolge feiert. «Vor den 1980ern war hier kulturelles Brachland», sagt «Saiten»-Redaktor Peter Surber (61). Er erzählt: Erst mit ersten Hausbesetzungen erkämpften sich Jugendliche ab den 1980er-Jahren Raum für Alternativkultur. Aus diesem Kampf entstanden die Grabenhalle und die Lokremise, längst etablierte Institutionen – was wiederum Platz für Alternativkultur wegnimmt. Die Lücke versucht seit 1999 das wilde Alternativ-Kollektiv «Das Rümpeltum» zu füllen, das sich in letzter Zeit von ungewisser Zwischennutzung zu noch ungewisserer Zwischennutzung hangelt.
Ostschweiz: Provinz als Vorteil
«In dieser Kleinteiligkeit liegt aber auch ein Vorteil», sagt Corinne Riedener (34), ebenfalls «Saiten»-Redaktorin, «gerade wegen der verhältnismässigen Provinzialität herrscht hier grössere Freiheit. Man fällt nicht so tief, traut sich deshalb mehr.» «Velvet Two Stripes»-Sängerin Sophie Diggelmann ergänzt: «Man unterstützt sich, aus dieser Kleinteiligkeit entsteht viel. Weggezogen ist sie trotzdem: «Es lief dann doch zu wenig.»
Der grösste Teil des kantonalen Kultur-Geldtopfs, 16 Millionen Franken im Jahr, geht an Museen und das Theater. Für die freie Szene, also Kunst, Musik, Theater, bleiben jährlich 640 000 Franken übrig. Das ist nicht viel – und das wird
von Kulturschaffenden bemängelt: «Stadt und Kanton fördern die freie Szene zurückhaltend. Das subventionierte Theater St. Gallen etwa legt den Schwerpunkt auf Musicals. Wen wunderts also, dass sein Ruf im deutschsprachigen Raum nicht sehr gut ist – auch wenn der jetzige Schauspieldirektor mit aller Kraft dagegenhält», sagt etwa der freischaffende Theatermacher Michael Finger. Er räumt mit seinem «Cirque de Loin» und anderen Produktionen weitherum Preise ab.
Finger arbeitet in St. Gallen und in Trogen AI und kennt deshalb die Kulturlandschaft beider Kantone.
Er sieht die Landkantone teilweise fast innovativer. «Insbesondere in Appenzell Ausserrhoden läuft viel – da ist die Kulturförderung von sich aus innovativ und veranstaltet etwa die Kultur-Landsgemeinde», sagt Finger. Das Ausserrhoder Amt für Kultur gibt im Übrigen mit «Obacht Kultur» ein Kulturmagazin heraus, welches 2014 von Art-TV als das «Schönste Kulturmagazin der Welt» geehrt wurde.
Nur für die junge gibts nichts
In St. Gallen macht man es weiterhin selber: Die «Saiten»-Redaktoren betreiben drei Monate das alte Kino Rex – es heisst ab sofort EXREX –, bevor es abgerissen wird. Geplant sind Konzerte, Partys, aber auch Kunstanlässe, punktgenau zum Jubiläum. Auch in den Kantonen Thurgau und Schaffhausen organisieren private Vereine Klubnächte, Konzerte, Lesungen, Slam-Events und Theater.
Von kulturellem Brachland kann also keine Rede sein. Einzig die jüngste Generation scheint in die Röhre zu schauen. «Es git nüt für die Junge, Mann, nüt!», sagt Comedian Kiko – und meint damit Junge zwischen 15 und 20. Dabei würden alle, die er kennt, Musik machen, Videos drehen etc. Nur aufnehmen können sie es nirgends. Kiko und seine Kollegen stellen deshalb der Schülergeneration auch mal ihr Studio an der Haggenstrasse gratis zur Verfügung – und haben eine Nachricht an den Stadtpräsidenten: «Fördert mal Studios, fördert neben Museen und Theater junge Musik! Das kreative Potenzial ist riesig!»
Für manche Landkantone gilt wohl: Auf Brachland ist, wie in der Biologie, Platz, dass die seltensten Pflänzchen blühen.
So verfügt die Ostschweiz über eine reiche Kulturszene «von unten», von engagierten Menschen, die seit Jahren ihre Kultur einfach selber machen – und so eine ganz eigenständige Haltung entwickeln. Damit sie bleiben, wäre allen Kantonen eine offensive, auf die Nachwuchs-Generation ausgerichtete Kulturförderung zu wünschen.
Auch in der Politik ist die Ostschweiz wieder da
Seit der Wahl von Karin Keller-Sutter aus St. Gallen in den Bundesrat ist immerhin politisch schon klar: Die Ostschweizer sind in der Mitte der Schweiz angekommen – auch wenn sie es selber teilweise noch nicht so ganz merken. Und zum Dialekt ist zu sagen: Auf unserer Reise durch St. Gallen, Thur-gau und Schaffhausen hat niemand, den wir angetroffen haben, das klischeeartige spitze I oder überscharfe E, das so oft parodiert wird, gesprochen. Schööh tönts aigentli idr Oschtschwiiz!
Und der harmlose Klamauk-Punkrocker Boni Koller, der mit seiner Band Baby Jail schon in den Achtzigerjahren vor den «Sanggallern» gewarnt hat? Der ist – Tschuldigung villmal, Herr Koller – längst von Ostschweizern wie dem intelligenteren Stahlberger oder den brachialeren Knöppel entthront worden – Pardon: «enttrohnt woahdo».
Musik
Panda Lux (Rorschach SG): Vier Jungs, die besten Deutschpop liefern – und beim grossen Nachbarn auch gut ankommen. pandalux.ch
Skiba Shapiro (St. Gallen): Verträumter, schräger Pop; (noch) ein Geheimtipp. skibashapiro.ch
Gabriela Krapf (Appenzell Ausserrhoden): Gilt in der Jazzszene als eine der besten Sängerinnen der Schweiz, hat eben ein neues Album herausgegeben.gabrielakrapf.ch
Bühne
Gabriel Vetter (Schaffhausen): Radiogrösse, Satiriker, Slammer, Kabarettist, Theatermacher – und einer der vielen Salzburger-Stier-Preisträger aus der Ostschweiz. drehundangel.ch
Lara Stoll: Slammerin und Stand-up-Comedian, hat soeben den Deutschen Kleinkunstpreis 2019
gewonnen. larastoll.ch
Theater Varain (beide Appenzell): Von Profis unterstütztes Laientheater mit grossartigen Produktionen.
theater-varain.ch
Literatur & Kunst
Roman Signer (Appenzell): Seit Jahren einer der wichtigsten (und unterhaltsamsten) Künstler der Schweiz. romansigner.ch
Dorothee Elmiger(Appenzell Ausserrhoden): Eigenwillige Nachwuchsautorin, mit diversen Preisen überhäuft. dumont-buchverlag.de/autor/dorothee-elmiger/
Loredana Sperini (Lichtensteig SG): Nachwuchskünstlerin aus dem Toggenburg mit internationaler
Ausstrahlung. loredanasperini.com
Musik
Panda Lux (Rorschach SG): Vier Jungs, die besten Deutschpop liefern – und beim grossen Nachbarn auch gut ankommen. pandalux.ch
Skiba Shapiro (St. Gallen): Verträumter, schräger Pop; (noch) ein Geheimtipp. skibashapiro.ch
Gabriela Krapf (Appenzell Ausserrhoden): Gilt in der Jazzszene als eine der besten Sängerinnen der Schweiz, hat eben ein neues Album herausgegeben.gabrielakrapf.ch
Bühne
Gabriel Vetter (Schaffhausen): Radiogrösse, Satiriker, Slammer, Kabarettist, Theatermacher – und einer der vielen Salzburger-Stier-Preisträger aus der Ostschweiz. drehundangel.ch
Lara Stoll: Slammerin und Stand-up-Comedian, hat soeben den Deutschen Kleinkunstpreis 2019
gewonnen. larastoll.ch
Theater Varain (beide Appenzell): Von Profis unterstütztes Laientheater mit grossartigen Produktionen.
theater-varain.ch
Literatur & Kunst
Roman Signer (Appenzell): Seit Jahren einer der wichtigsten (und unterhaltsamsten) Künstler der Schweiz. romansigner.ch
Dorothee Elmiger(Appenzell Ausserrhoden): Eigenwillige Nachwuchsautorin, mit diversen Preisen überhäuft. dumont-buchverlag.de/autor/dorothee-elmiger/
Loredana Sperini (Lichtensteig SG): Nachwuchskünstlerin aus dem Toggenburg mit internationaler
Ausstrahlung. loredanasperini.com