Über rund 25 Kilometer schlängelt sich die Kantonsstrasse kurvenreich durch das Ferrera- und Avers-Tal. An ihrem Ende liegt Juf GR, die höchstgelegene ganzjährig bewohnte Siedlung Europas auf 2126 Metern über Meer. Der abgelegene Ort mit seinen 26 Einwohnern gilt trotz des Höhensuperlativs noch immer als Geheimtipp jenseits des Massentourismus.
Gesprächsthema Nummer 1 ist nicht Corona, sondern eine grosse Baustelle. Landwirt Dominik Menn (28) errichtet mit seinem Stallneubau das grösste Gebäude im ganzen Dorf.
«Anders ginge es trotz der Direktzahlungen des Bundes nicht», erklärt der Bauer. «Müsste ich den alten Stall mitten im Dorf weiter betreiben, hätte unsere Familie hier oben keine wirtschaftliche Zukunft.»
Einschneidend, aber notwendig
Wegen der langen Winter ist der Lagerbedarf besonders gross. Dank dem 1,2 Millionen Franken teuren Projekt dürfen sich Menns 31 Angus- und Schottischen Hochlandrinder über wesentlich mehr Platz für Heu und Futter freuen.
«Das ist die einschneidendste Änderung im Ortsbild seit vielen Jahren», gibt ein Kunde an der Kasse im Jufer Lädeli gegenüber Corina Menn (57) zu bedenken. Die Ladenbetreiberin, die mit einem Onkel von Dominik Menn verheiratet ist, erwidert: «Man muss den Jungen hier oben eine Perspektive bieten. Weil diese gefehlt hat, sind unsere Kinder von hier weggezogen!»
Dabei sei in Juf die Lebensqualität so hoch wie sonst fast nirgends, betont Corina Menn, die ihr Lädeli schon seit 32 Jahren betreibt und daneben auch Ferienwohnungen vermietet. «Die Stille ist wunderbar, und man ist von der Natur umgeben. Gleichzeitig kennen sich alle, und man hilft sich gegenseitig.»
Alpenrose erstrahlt in neuem Glanz
Wer im höchsten Dorf Europas lebt, muss anpacken können. Etwas, was auch Markus Menn (64), Corinas Ehemann, getan hat. Vor 13 Jahren hat er sich das Gasthaus Alpenrose gekauft, es etappenweise und liebevoll renoviert.
«Es war ein Kampf», sagt Menn. Und fügt an: «Ich wollte verhindern, dass das Haus an Auswärtige geht, die es als Feriendomizil verwenden. Mir ging es vor allem darum, Arbeitsplätze und Wertschöpfung für uns Einheimische zu schaffen!»
Das ist gelungen: Seit dem 1. Juni hat die urchige Alpenrose wieder geöffnet. «Ich hatte Glück mit dem Eröffnungszeitpunkt, die Corona-Zeit habe ich praktisch nicht gespürt, und inzwischen ist das Geschäft gut angelaufen. Auch weil Juf einen guten Ruf hat», frohlockt der neue Gastgeber Raymondo Demarmels (40).
Darüber spricht man .... in
Kinder als Zukunftsversprechen
Vor wenigen Wochen ist er zum vierten Mal Vater geworden. Nun hat der Wirt, der mit seiner Familie etwas weiter unten im Weiler Juppa lebt, dank dem «Baby» Alpenrose eine längerfristige Existenz im Tal. «Es ist wichtig, genügend Kinder zu haben, damit wir die Schule in unserer Gemeinde Avers weiterhin betreiben können», sagt eine ältere Dame an einem Tisch.
Im Nachbardorf Ferrera GR sah man sich vor vielen Jahren zur Schliessung gezwungen. «Die Schule ging nie wieder auf», sagt sie nachdenklich.
Raymondo Demarmels, der in 13 Zimmern 42 Betten anbieten kann, setzt auf seiner Speisekarte voll auf Regionalität. «Bio, lokale Zutaten aus dem Tal, Schweizer Küche. Das ist meine Philosophie», erklärt er.
Juf überzeugt mit Stille
Das Fleisch liefert Dominik Menn, der Bauherr des neuen Stalls. Dessen Frau Priska, Mutter der beiden gemeinsamen Söhne Adrian (3½ Jahre) und Elias (11 Monate), ist aus dem Baselbiet nach Juf gezogen. In eine andere Welt.
«Was Ruhe wirklich bedeutet, habe ich erst hier oben kennen- und schätzen gelernt», sagt Priska Menn. «Und unsere Kinder können tun und lassen, was sie wollen. Sie wachsen in einem Paradies auf!»
Ein Leben im abgelegenen Bergdorf sei aber wohl nicht für alle etwas, vermutet sie. Das überrascht nicht: Der Winter in Juf dauert bis zu sechs Monate. Und die restliche Zeit sei es einfach nur kalt, witzeln sogar die Einheimischen.
Erst seit 1948 darf sich Juf GR rühmen, der höchste ganzjährig bewohnbare Ort Europas zu sein. Weil es Rudolf Menn, der Vater von Markus Menn (siehe Text), leid war, jeden Herbst aufs Neue in die Talmitte zu zügeln, erbaute er mit eigenen Händen ein kleines Wasserkraftwerk.
Dank der damit betriebenen Heizung und dem elektrischen Licht liess es sich im Walserdörflein Juf erstmals ganzjährig leben. Das Werbeargument der höchsten Siedlung lässt sich somit direkt auf Rudolf Menns Pragmatismus zurückführen. Seine vier Kinder sorgten danach dafür, dass der Name Menn in Juf bis heute dominiert.
Erst seit 1948 darf sich Juf GR rühmen, der höchste ganzjährig bewohnbare Ort Europas zu sein. Weil es Rudolf Menn, der Vater von Markus Menn (siehe Text), leid war, jeden Herbst aufs Neue in die Talmitte zu zügeln, erbaute er mit eigenen Händen ein kleines Wasserkraftwerk.
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