Mit einer tödlichen Halsverletzung taumelt Schemseddin S.* (†33) im Oktober 2017 in eine Arztpraxis in Bazenheid SG. Während der Schweiz-Tunesier noch auf dem Weg ins Spital verblutet, führt eine Blutspur zum nahen Elternhaus der Familie S. (BLICK berichtete).
Dort hatte sein Bruder Hichem S.* (31) im Streit ein Küchenmesser behändigt und auf ihn eingestochen. Nun, 2½ Jahre später, musste sich der Sozialhilfebezüger gestern wegen vorsätzlicher Tötung vor dem Kreisgericht Toggenburg verantworten. Das Urteil: 4½ Jahre Knast. Deutlich mehr, als die Staatsanwaltschaft wegen einer vorliegenden posttraumatischen Belastungsstörung gefordert hatte. Wäre es nach ihr gegangen, hätte Hichem S. eine teilbedingte Strafe kassiert und wäre nur 12 Monate hinter Gitter gewandert.
Beim Prozess behauptete Hichem S., dass er ein distanziertes Verhältnis zu Gewalt habe. «Das liegt nicht in meiner Natur», beteuerte er vor Gericht. Das brutale Verhalten erklärte S. damit, dass er in dem Moment nicht bei sich war. Gleichzeitig deutete er mehrfach an, dass er den Bruder für sein verpfuschtes Leben verantwortlich macht.
Missbrauch und angestauter Lebensfrust
«Ich litt unter seiner Gewalt. Unser Verhältnis war eigentlich gut, bis die Übergriffe stattfanden», erklärte er. Laut Anklage soll es in seiner Jugend zu einem jahrelangen, heftigen sexuellen Missbrauch gekommen sein. Der Ältere soll den Jüngeren zudem immer wieder «vermöbelt» haben.
K.S.* (26), ein weiterer Bruder, bestritt dies im Zeugenstand vehement. «Die Vorwürfe sind absolut willkürlich und unwahr», sagte der IV-Rentner. «Unser Haus war sehr hellhörig, wir lebten zu sechst da. Irgendjemand hätte das mitbekommen müssen», erläuterte K.S., der mit Hichem S. noch kurz vor der Tat auf seiner Xbox zockte.
Staatsanwalt Jan Dettweiler war aber davon überzeugt, dass der heftige Missbrauch sehr wohl stattgefunden haben dürfte. Hichem S. habe diesen bereits unmittelbar nach der Tat gegenüber der Polizei angeführt und früher schon gegenüber der Mutter erwähnt. «Für Hichem S. war Schemseddin S. der Grund, weshalb er in der Gesellschaft nicht Fuss fassen konnte», so Dettweiler.
Hichem S. erwartete seinen Bruder mit einem Küchenmesser
Die Geschwister verabredeten sich am Tag der Tat im Elternhaus, um Finanzielles zu regeln. Der spätere Angreifer forderte dabei vom Bruder Geld aus dem Verkauf des Elternhauses. Als dieser ihn ankickte, endlich eigenes Geld zu verdienen, eskalierte der Zwist. Hichem S. nahm ein Küchenmesser in die Hand und wartete auf den Bruder. Im Handgemenge mit K.S. und dem Vater fügte er Schemseddin S. die tödlichen Stichverletzungen zu. Das tragische Ende eines Familienzwists.
* Name bekannt