Forensiker über Inzest-Mutter Sonja G. (47)
«Bei einem Mann sähe das Urteil ganz anders aus»

Sonja G. (47) missbrauchte ihren Luca, seit er 10 war. Der Fall ist in der Schweiz einmalig. Der Forensiker Ralph Aschwanden versucht in die Psyche der Mutter zu blicken.
Publiziert: 16.08.2016 um 16:44 Uhr
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Aktualisiert: 07.10.2018 um 12:14 Uhr
Interview: Gregory Remez

Herr Aschwanden, über Jahre verging sich Sonja G. an ihrem heute 13-jährigen Sohn. Welche Folgen hat das für das Opfer?
Zwischen fünf und 14 Jahren entwickeln Kinder ihr Schamgefühl und ihre Intimität – entsprechend ihrem nächsten Umfeld. Durch einen Missbrauch in diesem Alter wird diese Entwicklung schwer gestört. Vor allem das «schützende» Schamgefühl ist für die spätere Beziehungsfähigkeit eines Menschen wichtig. Wird dieses nicht richtig ausgebildet oder «abtrainiert», wird der Betroffene später Probleme mit seiner Sexualität haben. Es kommt zu einer sexuellen Verwahrlosung, die sich in Promiskuität oder gar Prostitution äussern kann. Ausserdem besteht die Gefahr, dass das Missbrauchsopfer selbst zum Sexualstraftäter wird.

Bei sexuellen Übergriffen an Kindern ist der Täter nur in jedem 32. Fall weiblich. Weshalb gibt es vergleichsweise wenig Frauen, die sich an Kindern vergehen?
Das hat zwei Gründe: Einerseits ist der Sexualtrieb bei Männern im Durchschnitt deutlich stärker ausgeprägt. Von Natur aus übernimmt der Mann den aggressiven Part, ist derjenige, der «jagt». Andererseits gibt es eine riesige Dunkelziffer sexueller Übergriffe von Frauen an Kindern. Vor allem im Kleinkindesalter bleiben diese häufig unerkannt. Zudem werden sexuelle Übergriffe an Pubertierenden durch Frauen von der Gesellschaft und sogar von den Opfern selbst häufig verharmlost. Bei Männer wird hingegen teils fast schon «hysterisch» reagiert und vorverurteilt. Nicht selten liegen auch falsche Anschuldigungen vor.

Gibt es Parallelen zwischen pädophilen Frauen und Männern?
Bei beiden ist die Verfügbarkeit von Kindern entscheidend. Insbesondere wenn der Täter eine nahe Bezugsperson ist, ist das Kind leicht zu verführen. Im Fall der Sonja G. dürfte eine Hyper-Sexualität eine Rolle gespielt haben. Sie wird bei Frauen auch Nymphomanie genannt. Die Kombination von Hyper-Sexualität und pädophilen Neigungen ist sehr selten, da sich Nymphomaninnen meist ältere, reifere Partner suchen.

Wie sind die Erfolgsaussichten bei der Therapierung von Pädophilen?
Zuallererst: Pädophilie ist nicht heilbar. Sexuelle Neigungen bleiben mehr oder wenige über da ganze Leben stabil, sie lassen sich höchstens unterdrücken. Die meisten Pädophilen – und es gibt weit mehr als es pädophile Straftäter gibt – haben ihren Sexualtrieb im Griff. Eine psychotherapeutische Behandlung zusammen mit Medikamenten, die den Sexualtrieb hemmen, hat die höchsten Erfolgschancen (Rückfallquote: unter drei Prozent). Insbesondere wenn der gestörte Sexualtrieb auch vom Täter als störend empfunden wird. Dann willigt er schnell in eine chemische Kastration ein und empfindet diese Asexualität als Befreiung. Mit alleiniger Psychotherapie liegt die Rückfallquote hingegen bei über 40 Prozent, wobei Rückfälle meist in «Krisenzeiten» geschehen.

Die Staatsanwältin sagte heute, dass Sonja G. weder pädophil noch psychisch krank sei. Wie ist das zu erklären?
Gewisse pädophile Neigungen hat sie zweifellos, ansonsten ist eine solche Tat nicht zu erklären. Es ist denkbar, dass sie sich eigentlich von Männern angezogen fühlt, aber gegenüber dem eigenen Kind ein sexuell gestörtes Verhältnis aufgebaut hat. Im Fachjargon spricht man von pädophilen Nebenströmen, die zum Zug kommen, wenn das Opfer leicht verfügbar ist oder wenn man seine sexuellen Fantasien nicht mit Erwachsenen ausleben kann.

Das Gericht hat Sonja G. zu einer Freiheitsstrafe von 22 Monaten verurteilt. Sie muss in psychiatrische Behandlung. Ist das Urteil zu mild?
Es ist häufig so, dass Frauen bei sexuellen Übergriffen sehr viel mildere Urteile als Männer erhalten – weil sie Frauen sind und den Richter etwa mit einer gekonnten «Heulnummer» täuschen können. Der Missbrauch von Sonja G. scheint zwar ein Erstdelikt zu sein, doch erstreckte er sich über Jahre hinweg, in der empfindlichsten Phase für das Kind. Er wiegt deshalb schwer. Zudem ist es ein Widerspruch, wenn man zuerst festhält, sie sei nicht psychisch krank, sie dann aber doch in eine stationäre psychiatrische Behandlung schickt..

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