«Ich habe sicher 4'000 Insassen erlebt!»
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Gefängnisdirektor geht:Der Knast-Chef geht in Rente

Dienstältester Gefängnis-Direktor geht in Rente – auch Günther Tschanun (†73) sass bei ihm im Saxerriet
«Jeder verdient eine zweite Chance!»

Fast ein Vierteljahrhundert lang prägte Martin Vinzens die Strafanstalt Saxerriet im St. Galler Rheintal. Jetzt geht der dienstälteste Gefängnisdirektor der Schweiz in Pension und zieht mit Blick Bilanz.
Publiziert: 08.05.2021 um 00:56 Uhr
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Aktualisiert: 08.05.2021 um 10:09 Uhr
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Eine Legende geht: Nach 24 Jahren als Gefängnisdirektor im Saxerriet wird Martin Vinzens (64) in diesen Tagen pensioniert.
Foto: Philippe Rossier
Marco Latzer

4000 Häftlinge verbüssten unter ihm ihre Strafe in der St. Galler Strafanstalt Saxerriet. Nun tritt Martin Vinzens (64) als dienstältester Gefängnisdirektor der Schweiz in den Ruhestand. Und schaut auf 24 Berufsjahre – ohne spektakuläre Ausbrüche und Skandale – zurück.

«Ein wenig Glück war sicher auch dabei», gibt Vinzens gegenüber Blick zu. «Aber es zeigt auch, dass wir mit unseren Risikoeinschätzungen vielfach richtig lagen. Das liegt auch daran, dass unsere Mitarbeiter über die Jahre immer professioneller und risikokompetenter geworden sind. Aus Aufsehern wurden Betreuer», so der gebürtige Bündner.

«Tschanun war ein Häftling wie jeder andere»

Wie kein anderes Gefängnis steht das Saxerriet im St. Galler Rheintal für die Wiedereingliederung von Häftlingen in die Gesellschaft. Es gibt in der Strafanstalt mit 135 Plätzen zwar eine geschlossene Übergangsabteilung samt Arrestzellen, die meisten Insassen verbüssen ihre Strafe aber im offenen Vollzug.

Für Kriminelle mit langjährigen Haftstrafen wie etwa Ökoterrorist Marco Camenisch (69) oder Vierfachmörder Günther Tschanun (†73) war das Saxerriet die letzte Station vor der Entlassung. «Tschanun war im Vollzug ein Häftling wie jeder andere auch. Einfach mit dem Unterschied, dass sein Delikt allen bekannt war», erinnert sich der Gefängnisdirektor an den prominenten Ex-Insassen.

Martin Vinzens ist eigentlich studierter Theologe, sieht aber auch zwischen Strafvollzug und Glauben etliche Gemeinsamkeiten. In beiden Bereichen gehe es um Themen wie Schuld und Sühne.

Vinzens fordert Höchststrafe für Uneinsichtige

Dass etwa Tschanun nach nur 14 von 20 Jahren wieder freikam, kommentiert der Vater von drei Kindern nur indirekt. Er findet: «Man müsste den Gefangenen noch mehr an Entwicklungsschritten messen. Bei optimalem Verlauf wäre so auch eine Entlassung nach Verbüssung der Hälfte der Strafe möglich, wenn Tateinsicht und Reue, aber auch Veränderungsergebnisse vorhanden sind.» Einer, der seine Taten herunterspiele, solle dagegen ruhig seine gesamte Strafe absitzen.

Diese differenzierte Betrachtungsweise ist sinnbildlich für die Ära Vinzens im Saxerriet. Wiedereingliederung ist für ihn gesellschaftspolitischer Auftrag – dennoch nicht um jeden Preis. «Es gibt eine Gruppe von Häftlingen, die man hart bestrafen sollte. Ich spreche von gesunden Menschen, die vor ihrer Tat eine Risikoabwägung gemacht haben und sich bewusst dazu entschieden haben.»

Häftlinge erhalten zu selten eine zweite Chance

Andererseits verortet der Saxerriet-Chef eine gewisse Doppelmoral in der Gesellschaft: «Wir arbeiten erfolgreich mit den Leuten, ermöglichen ihnen Ausbildungen, um die Rückfallgefahr zu minimieren – und dann stellt sie niemand ein. Dabei hat jeder eine zweite Chance verdient», so Vinzens.

Das Saxerriet verfügt unter anderem über Werkstätten, eine Gärtnerei, eine Metzgerei und gar einen kompletten Bauernhof. Die Insassen erwirtschaften damit einen nicht unwesentlichen Beitrag der Haftkosten, die sie verursachen, gleich selbst.

«Ein Mann kostet im Normalvollzug 216 Franken pro Tag, in der geschlossenen Übergangsabteilung sind es 268 Franken. Wenn wir ihn hier acht Stunden arbeiten lassen, ergibt sich daraus ein absoluter Discountpreis für die geleistete Arbeit», rechnet Vinzens vor.

Saxerriet ist trotz Esel-Therapie kein Ponyhof

Für Aufsehen sorgten Gefängnis und Direktor auch, als vor einigen Jahren Esel für tiergestützte Therapien angeschafft wurden. Von Kuscheljustiz war die Rede. «Das ist Stammtischgerede, dafür habe ich nur ein müdes Lächeln übrig», sagt Vinzens.

«Der Freiheitsentzug, das Weggesperrtsein, ist entscheidend. Hat jemand einen Inhaftierten in seinem Umfeld, sorgt das sofort für einen Perspektivenwechsel.» Und das, obwohl man meterhohe Zäune im Saxerriet vergeblich sucht.

Unsichtbare Mauer statt echten Stacheldrahts

Dennoch sei die Strafanstalt von einer unsichtbaren Mauer umgeben, ist der abtretende Direktor überzeugt. «Gefragt sind hier Beziehungsarbeit und Gespräche. Wir brauchen keine Manager oder Verwalter in diesem Job, sondern psychologisch-philosophische Denker. Auch wenn die Zeit häufig fehlt, um über das Grundsätzliche zu reflektieren», sagt Vinzens.

Dafür hat er im Ruhestand – Vinzens nennt es scherzhaft seine eigene Wiederintegration in die Gesellschaft – nun Gelegenheit. Er will sich dabei vor allem seiner Leidenschaft für das Lesen und Schreiben widmen.

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