Die Schweiz diskutiert über Selbstversuch von Christine Steiger
Lag die Richterin richtig?

Christine Steiger und ihre Richterkollegen werden mit Lob überhäuft. Das Bezirksgericht Frauenfeld sprach am Donnerstag Autofahrerin Myrta A. frei, die einen Betrunkenen überfahren hatte. Ausschlaggebend war ein Fahrversuch vor Ort.
Publiziert: 23.09.2017 um 00:31 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 16:04 Uhr
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Richterin Steiger steuerte das Unglücksfahrzeug und erkannte den Dummy erst aus einer Entfernung von 25 Metern. Zusammen mit zwei Richterkollegen kommt sie zum Schluss: Die Fahrerin hatte keine Chance – also Freispruch.
Foto: Marcel Sauder
Marco Latzer

Myrta A.* (45) überfuhr Lukas B.* (26) vor zwei Jahren bei Neunforn TG. Der junge Polymechaniker legte sich nach einer Partynacht betrunken auf eine Kantonsstrasse – und schlief ein! Nachdem ihn der Peugeot-Lieferwagen überfahren hatte, verstarb B. noch am Unfallort.

Das Bezirksgericht Frauenfeld sprach die Bäckerin am Donnerstag vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung frei. Ausschlaggebend war eine Probefahrt mit einer Puppe an der Unfallstelle direkt vor Prozessbeginn. Richterin Christine Steiger (61) setzte sich frühmorgens selbst ans Steuer des Peugeots und versuchte, den Ablauf nachzuvollziehen.

«Ich musste mich bisher noch nie selbst hinter das Steuer setzen. Es hat sich so ergeben, weil ich die Einzige war, die etwa gleich gross wie die Beschuldigte ist», erklärt die Richterin.

Die Richterin sah die Puppe erst spät

Steiger legt grossen Wert darauf, dass sie den Entscheid zusammen mit zwei weiteren Richtern gefällt habe. «Ich konnte die Puppe erst sehr spät sehen, obwohl ich Schritttempo gefahren bin. Kommt dazu: Da ich vorgewarnt war, habe ich bewusst auf sie geachtet», schildert die Vorsitzende. Erst aus einer Entfernung von 25 Metern sei der Dummy für sie zu sehen gewesen. Zu spät also für die Unfallfahrerin, um rechtzeitig anzuhalten.

Opferanwalt Hermann Lei (44) war Beifahrer und ist radikal anderer Meinung: «Der Augenschein hat seine Tücken, weil er nicht objektiv ist. Ich selbst habe die Puppe schon aus 50 Metern erkannt.» Genügend Zeit für einen Stopp.

Freispruch irritiert Experten

Lei stösst sich daran, dass der Ausgang des Verfahrens von den Sehfähigkeiten der Richter abhängig war. Die Versuchsfahrt kurz vor dem Prozess habe bei Steiger grossen Eindruck hinterlassen. «Ich hatte danach das Gefühl, dass sie ihre Meinung schon vor der Verhandlung gemacht hatte», beklagt der Opferanwalt.

Dazu kommt: Während viele BLICK-Leser sich in die Fahrerin hineinversetzen und sich über den Freispruch freuen, bleiben Experten irritiert zurück. In ähnlichen Fällen kam es zuletzt meistens zu Schuldsprüchen.

«Es gibt keine Kontroverse», sagt Christine Steiger. «Wir haben so entschieden, wie wir es für richtig empfunden haben. Dieser Fall lässt sich auch nicht mit anderen vergleichen. Jeder ist unterschiedlich.»

* Namen der Redaktion bekannt

Der falsche Reflex

Kommentar von Thomas Ley, Blattmacher BLICK

Man könnte sagen: Diese Richterin beweist Flexibilität, Einfallsreichtum, Einfühlungsvermögen. Sie überlässt Rekonstruktionen nicht Experten und Polizisten, sie nimmt sie selber vor. Und kommt danach erst noch zu einem grosszügigen Urteil.

Doch ihr Vorgehen hinterlässt zuviele Fragen: Was wäre geschehen, hätte sie die Puppe auf der Strasse rechtzeitig gesehen, um bremsen zu können? Denn, anders als die Angeklagte wusste sie ja, dass da was kommt.

Hätte sie dann einen Schuldspruch fällen müssen? Hätte das nicht unfair ausgesehen? Mit anderen Worten: Ist eine Richterin, die Rekonstruktionen selber vornimmt, nicht von Anfang an eingeschränkt in ihren Optionen?

Rekonstruktionen sind nicht ohne Grund normalerweise den Experten überlassen, die ihre Befunde dem Gericht erklären müssen. Richtersprüche sollten nicht abhängig sein von den Fähigkeiten – hier den Fahrkünsten – des Richters. Recht gesprochen wird mit dem Geist, nicht mit den Reflexen.

Kommentar von Thomas Ley, Blattmacher BLICK

Man könnte sagen: Diese Richterin beweist Flexibilität, Einfallsreichtum, Einfühlungsvermögen. Sie überlässt Rekonstruktionen nicht Experten und Polizisten, sie nimmt sie selber vor. Und kommt danach erst noch zu einem grosszügigen Urteil.

Doch ihr Vorgehen hinterlässt zuviele Fragen: Was wäre geschehen, hätte sie die Puppe auf der Strasse rechtzeitig gesehen, um bremsen zu können? Denn, anders als die Angeklagte wusste sie ja, dass da was kommt.

Hätte sie dann einen Schuldspruch fällen müssen? Hätte das nicht unfair ausgesehen? Mit anderen Worten: Ist eine Richterin, die Rekonstruktionen selber vornimmt, nicht von Anfang an eingeschränkt in ihren Optionen?

Rekonstruktionen sind nicht ohne Grund normalerweise den Experten überlassen, die ihre Befunde dem Gericht erklären müssen. Richtersprüche sollten nicht abhängig sein von den Fähigkeiten – hier den Fahrkünsten – des Richters. Recht gesprochen wird mit dem Geist, nicht mit den Reflexen.

 

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