Daniel Zangger (62) sitzt am Küchentisch. Seine Augen sind wach, er ist sichtlich nervös. Erstmals will er jetzt über etwas sprechen, das ihn seit seiner Kindheit belastet. Mit der Veröffentlichung des Buchs «Jürg Jegges dunkle Seite» von Markus Zangger, seinem Bruder, wurde sein schreckliches Geheimnis schon halb gelüftet: Dass auch er durch Jürg Jegge (74) sexuell missbraucht worden ist.
Als Erwachsener Mühe mit Beziehungen
Die Ereignisse liessen ihn nie los: Beziehungen scheiterten, erst spät fasste er im Arbeitsleben Tritt: «Ich denke schon, dass Jürg Jegge mein Leben zerstört hat», sagt er. Nur Wenigen konnte er sich bis heute anvertrauen. Im Buch des Bruders ist er lediglich Opfer A. Nun schildert Daniel Zangger erstmals öffentlich, was er als Schüler Jegges erlebte.
In den 60er-Jahren besuchte er die Primarschule in Embrach ZH, musste die dritte Klasse wiederholen und kam danach in die Sonderklasse. Nach der Unterstufe wurde er der Förderklasse zugeteilt – der Klasse von Jürg Jegge. Zu diesem Zeitpunkt ist Daniel zwölf Jahre alt, sein Lehrer 24.
Mit Weisswein gefügig gemacht
Zangger fällt es sichtlich schwer, über die Erlebnisse von damals zu sprechen, viele Erinnerungen kann er noch nicht in Worte fassen. Ein Bild hat sich ihm eingebrannt: «Jegge lud mich zu sich in seine Wohnung ein, wo ich mich auf sein Bett legen musste. Dann fasste er mich überall an.» Mit Weisswein machte Jegge sein Opfer gefügig. «Die sexuellen Übergriffe – getarnt als Therapie – haben sich ins Endlose gesteigert.» Um sein Opfer zum Schweigen zu bringen, manipuliert Jegge ihn auch psychisch: «Er hat mir eingebläut, dass ich von diesen Sitzungen nichts erzählen solle.»
Nach Austauschjahr und einem zehnten Schuljahr bei Jegge begann Daniel eine Lehre zum Elektrotechniker – er scheiterte. Danach schlug er sich mit unqualifizierten Jobs durch: Als Hilfspfleger, als Hilfsarbeiter auf dem Bau. Jegge lud den inzwischen Volljährigen immer wieder zu sich nach Hause ein. «Er hat meine Abhängigkeit ausgenutzt», sagt Daniel Zangger: «Da war immer diese Angst, dass jemand herausfinden könnte, was zwischen mir und ihm lief.»
Alte Wunden brechen plötzlich auf
Erst mit 27 Jahren traut er sich, Nein zu sagen: «Ich machte ihm klar, dass ich die Therapie nicht mehr will.» Jegge akzeptierte. «Trotz der Übergriffe kriegte ich die Kurve», so Daniel Zangger. Viele andere Jungen seien nach Jegges «Therapie» abgestürzt. Er glaubte bereits, dass er die Übergriffe endgültig verarbeitet hätte.
Doch als ihn sein jüngerer Bruder Markus Zangger vor anderthalb Jahren zum Gespräch bittet und ihn auf die Sitzungen anspricht, das «Dureschnuufe», brechen die alten Wunden wieder auf: «Ich merkte, dass ich gar nichts verarbeitet hatte», so Daniel Zangger. Erst seit die Vorwürfe gegen Jegge öffentlich wurden, fühle er sich besser: «Es ist, als ob eine riesige Last von mir abfiel.»