Auf einen Blick
Wenn Lea in Bern aus dem Zug steigt, dauert es bloss ein paar Schritte bis zur ersten Versuchung: Ploom, Glo, Iqos Iluma, Nordic Spirit, Elfbar und selbstverständlich auch Marlboro, Dunhill und Parisienne – bereits am ersten Kiosk in der Bahnhofunterführung gibt es praktisch die gesamte Palette an Tabakerhitzern, Vapes, Snus und alle Formen von herkömmlichen Zigaretten. Bis zur Schule, die bloss ein paar Hundert Meter entfernt liegt, hat sie mehr als 20 Gelegenheiten, sich mit Nikotin einzudecken.
Lea ist 17 und Gymnasiastin. Jugendliche wie sie sind für die Branche überlebenswichtig: Wer sich in jungen Jahren an einen regelmässigen Nikotinkick gewöhnt hat, kommt im Verlauf seines Lebens nur schwer davon los. «In meiner Klasse rauchen oder vapen rund zwei Drittel meiner Kolleginnen und Kollegen», sagt Lea zum Beobachter.
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Bisher hat sie der Versuchung widerstanden. Doch die Tabakbranche hat in der Schweiz statistisch gesehen gute Chancen – bessere als fast überall in der EU –, dass Lea doch noch irgendwann ihre Kundin wird.
Ein Blick über den Kanal
Wenn Lea in Grossbritannien leben würde, bekäme sie als Minderjährige Nikotinprodukte nicht einmal zu sehen. Wer im Vereinigten Königreich Zigaretten oder Vapes kaufen will, muss einen Ausweis zeigen, bevor überhaupt nur die Packung aus dem verriegelten Gestell geholt wird.
Diese ist bei Zigaretten in einem Einheitslook gehalten, mit drastischen Bildern von Raucherkrankheiten versehen – und astronomisch teuer. Eine Packung kostet rund 14 Pfund – knapp 16 Franken. In der Schweiz zahlt man dafür zwischen 8 und 9 Franken.
Nikotinprodukte sind hierzulande hübscher verpackt und einfacher zu kaufen als vielerorts in Europa. Wer verstehen will, warum, muss zuerst verstehen, wie sich die Branche im letzten Jahrzehnt eine Imagekur verordnet hat. Und warum sie gerade bei uns ausgesprochen erfolgreich damit war.
1. Das Versprechen: Rauchen ohne Rauch
Ende Juli erschien in der deutschen Frauenzeitschrift «Brigitte» ein bemerkenswertes Inserat: «45% der Raucher halten Nikotin fälschlicherweise für krebserregend», stand dort; und weiter: «FAKT: Nikotin verursacht KEINEN Krebs.»
Unten rechts auf der ganzseitigen Anzeige prangte das Logo des Tabakkonzerns Philip Morris International. Sein globales Operationszentrum hat der Konzern in Lausanne. Die weltweite Forschung und Entwicklung betreibt er in Neuenburg.
Philip Morris vertreibt das Tabakerhitzersystem Iqos, das – so der Konzern – irgendwann Zigaretten ganz ersetzen soll. Ein Iqos-Einsatz hat laut eigenen Angaben etwa gleich viel Nikotin wie eine herkömmliche Marlboro-Gold-Zigarette – ist aber an den Kiosken, an denen Lea täglich vorbeigeht, deutlich günstiger zu haben.
Die Abkehr vom Glimmstängel
Nach heutigem Wissensstand ist Nikotin tatsächlich nicht krebserregend. Aber es ist der Stoff, der Menschen süchtig macht nach Produkten, die erwiesenermassen oder mutmasslich Krebs verursachen: Zigaretten, Tabakerhitzer und Vapes und die in die Mundhöhle gestopften Snus-Packungen.
Die Ironie der Geschichte: Als in den Nullerjahren die ersten E-Zigaretten auf den Markt kamen, galten diese als Ausstiegshilfen für Raucherinnen und Raucher. Das Parlament beschloss deshalb 2011, sie von der Tabaksteuer zu befreien.
Die grossen Tabakfirmen frohlockten, denn die Zigarettenverkäufe waren seit der Jahrtausendwende stark zurückgegangen, von jährlich über 14 Milliarden Stück auf heute noch gut 8 Milliarden. Der Ruf des klassischen Glimmstängels war längst ruiniert. Über 9500 Tote pro Jahr durch Tabakkonsum allein in der Schweiz liessen sich nicht mehr wegreden.
Lifestyle-Boost für die Branche
Im Hintergrund forschten die grossen Hersteller deshalb seit langem an neuen Produkten. An Tabakerhitzern wie Iqos (Philip Morris), Glo (British American Tobacco) oder Ploom (Japan Tobacco International). Dazu entwickelten sie und unzählige weitere Hersteller Vapes, bei denen eine nikotinhaltige Flüssigkeit verdampft wird.
Diese neuen Produkte waren plötzlich nicht mehr klobige, schwierig zu bedienende Geräte, sondern Lifestyle-Gadgets, die sich an ein junges, urbanes Publikum richteten.
Zu den neuen Produkten gesellte sich eine verlockende Statistik: dass E-Zigaretten – gemeint sind Vapes – bis zu 95 Prozent weniger schädlich seien als herkömmliche Glimmstängel.
Krebsgefahr bleibt bestehen
Doch diese Zahl beruht auf einer blossen Schätzung und wurde an einem Treffen von rund einem Dutzend Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in die Welt gesetzt. Gesponsert war die Zusammenkunft von zwei der Tabakindustrie nahestehenden Organisationen.
Die Teilnehmer definierten 14 Kriterien, um die Gefährlichkeit von Zigaretten einzuschätzen. Bloss fünf davon bezogen sich direkt auf gesundheitliche Risiken. Unter den anderen neun fanden sich Kriterien wie Kriminalität, Familienstreitigkeiten und Umweltschäden.
Mittlerweile gilt als erwiesen, dass gewisse Inhaltsstoffe von Vapes krebserregend sind. Langzeitschäden wird man erst in einigen Jahren oder Jahrzehnten feststellen können.
Nikotinkonsum steigt rasant
Beides zusammen, die neuen Produkte und der vermeintliche Persilschein dafür, wirkte sich deutlich messbar auf den Konsum aus. Der Beobachter hat die beim Bund versteuerten Mengen Tabakprodukte der Jahre 2012 bis 2023 auf Einzelportionen umgerechnet. Dabei zeigt sich: Der Konsum von Zigaretten nahm in der Schweiz tatsächlich deutlich ab.
Gleichzeitig stieg jedoch die Nachfrage nach Tabakerhitzern markant an, und die Verkaufszahlen von Snus gingen förmlich durch die Decke. Insgesamt blieb damit der Konsum von Tabakprodukten praktisch stabil.
Doch auch dies nur scheinbar. In Wirklichkeit dürfte die Zahl der Nikotinabhängigen nämlich gerade sogar rasant ansteigen. In der Statistik des Bundes fehlt nämlich eine wichtige Produktkategorie: nikotinhaltige Vapes. Diese werden erst seit 2022 in einer separaten Position in der Zollstatistik erfasst.
Und diese neu erhobenen Zahlen zeigen: Seit vor wenigen Jahren billige, bunte Einweg-Vapes die Kioske und Onlineshops geflutet haben, schiessen die Verkäufe in die Höhe. Allein zwischen 2022 und 2023 stieg die Menge der verzollten Vapes von 319 auf 884 Tonnen – die privat aus ausländischen Onlineshops eingeführten, nicht verzollten Vapes nicht eingerechnet.
Erstes Fazit: Wir bleiben süchtig, weil die Industrie immer neue Wege findet, Nikotin attraktiv verpackt an ein möglichst junges Publikum zu bringen. Und weil aus der Tabaksucht längst eine Nikotinsucht geworden ist.
2. Das Netzwerk: Feuer und Flamme im Bundeshaus
Zehn Minuten Gehweg vom Bahnhof Bern feiert die Nikotinindustrie mit ihrem 95-Prozent-weniger-schädlich-Mythos immer wieder Erfolge. Hier, im Bundeshaus, hat sie damit erreicht, dass sie ihre Produkte auch weiterhin günstig verkaufen und breit bewerben kann.
In der Botschaft zum revidierten Tabaksteuergesetz, das seit dem 1. Oktober in Kraft ist, griff selbst der Bundesrat auf die ominöse Zahl zurück: E-Zigaretten hätten «ein um bis zu 95 Prozent tieferes Schädlichkeitspotenzial», argumentierte die Regierung. Dies würden «Fachpersonen aus dem Gesundheits- und Präventionsbereich» attestieren. Um wen es sich dabei handelt, führte der Bundesrat nicht aus.
Steuersätze sinken
Stattdessen nahm er die angeblich 95 Prozent tiefere Schädlichkeit als Ausgangspunkt für die Berechnung der Steuersätze. Das Resultat: Mit 12 Prozent (Tabakerhitzer), 6 Prozent (Snus) und einem Franken pro Milliliter Flüssigkeit bei Einweg-Vapes sind diese massiv tiefer als bei herkömmlichen Zigaretten, die mit rund 52 Prozent besteuert werden.
Ebenso erfolgreich war die Branche beim neuen Tabakproduktegesetz (TabPG), das ebenfalls seit dem 1. Oktober in Kraft ist. Es verbietet unter anderem den Verkauf von Tabakprodukten an Minderjährige, schränkt die Werbung ein und weitet das bestehende Rauchverbot auf alternative Tabakprodukte wie Vapes aus.
Ein zahnloses Gesetz
Aus Sicht von Präventionsfachleuten ist das TabPG völlig unzureichend, bestenfalls: «Die Kontrollen und Sanktionsmassnahmen sind ungenügend, und die Steuersätze für die nikotinhaltigen Produkte sind viel zu niedrig», sagt Wolfgang Kweitel von der Arbeitsgemeinschaft Tabakprävention zum Beobachter.
Er könnte dafür Lea und ihre Mitschüler als Beweis anführen. «Es ist nicht das geringste Problem, an Zigaretten, Vapes oder Snus heranzukommen, auch wenn man noch nicht 18 ist», sagt sie.
Die Branche ist zufrieden
Tabak- und Gewerbekreise hingegen lobten das neue Gesetz nach jahrelangem erbitterten – und erfolgreichen – Widerstand als tragfähige Lösung und guten «Kompromiss».
Das sieht die Stimmbevölkerung anders: Weil es im Februar 2022 die Volksinitiative «Ja zum Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Tabakwerbung» angenommen hat, muss das eben erst in Kraft getretene Gesetz mit strengeren Werbebestimmungen ergänzt werden. Damit würde es für die Tabakbranche deutlich schwieriger, neue Kundschaft in Leas Alterskohorte anzuziehen.
Entsprechend stark wehrt sich die Branche – und stösst im Bundeshaus auf offene Ohren. Der Luzerner Ständerat Damian Müller ist eines von diversen Parlamentsmitgliedern, die sich regelmässig für die Anliegen der Tabak- und Nikotinindustrie einsetzen, ohne dass sie irgendwelche Mandate in diesem Bereich innehaben. In Müllers Heimatkanton Luzern produziert Japan Tobacco International (JTI) in Dagmersellen Tag für Tag 44 Millionen Zigaretten.
Posieren für den Tabakkonzern
Müllers Nähe zu JTI ist augenfällig. Der FDP-Mann zeigte sich schon am «Clean-up-Day» von JTI, posierte mit Angestellten und sammelte gemeinsam mit ihnen publikumswirksam Abfall und Zigarettenstummel auf. In seinem Unterstützungskomitee für die Wahlen 2023 sass auch ein Kommunikationsmanager von JTI. Zudem sponsert der Zigarettenhersteller aus dem Wiggertal die Veranstaltungsreihe «Luzern diskutiert», deren Präsident Müller ist.
Er stehe als Ständerat des Kantons Luzern «selbstverständlich» im Austausch mit JTI, erklärt Müller schriftlich: «Ich agiere dabei aber unabhängig und werde von JTI oder einer Branchenorganisation der Tabakindustrie finanziell nicht unterstützt.» Auch JTI erklärt, man leiste keine Wahlkampfunterstützung.
Zweites Fazit: Wir bleiben süchtig, weil die Tabak- und Nikotinlobby über einen hervorragenden Draht ins Bundeshaus verfügt.
3. Die Öffentlichkeit: Gut verpackt ist halb gewonnen
Der 95-Prozent-Mythos ist längst nicht die einzige Art, wie «Big Tobacco» die Wissenschaft für sich einzuspannen weiss. Die Beeinflussung der öffentlichen Meinung via angeblich wissenschaftlich erhärtete Fakten hat Tradition.
So berichtete RTS im vergangenen Frühling, dass Philip Morris International (PMI) mit Forschungsstandort Neuenburg an der dortigen Universität einen beim Weltkonzern angestellten Privatdozenten platziert hat. Zwei weitere PMI-Angestellte konnten an der Alma Mater in Neuenburg ihre Dissertation schreiben – mit finanzieller Unterstützung des Konzerns.
Auch an der ETH war Philip Morris aktiv. Zwischen 2017 und 2021 unterstützte PMI zwei Forschungsprojekte in den Bereichen Toxikologie und Chemie mit insgesamt einer Million Franken.
Uni Zürich hält an umstrittener Studie fest
Und ein besonders stossendes Beispiel dokumentiert der Beobachter seit 2014: An der Universität Zürich war ein sogenanntes Working Paper erschienen, in dem zwei Forscher zum Schluss kamen, dass neutrale Zigarettenpackungen in Australien keinen Einfluss auf das Rauchverhalten hatten. Der Auftraggeber: Philip Morris International.
Und obschon mehrere Untersuchungen der Studie handwerkliche Fehler nachwiesen, wurde sie von der Tabakindustrie munter weiter zitiert, um gegen neutrale Zigarettenpackungen zu weibeln.
Im Frühling 2024 kam schliesslich raus: Es gab für die Studie einen geheimen Zusatz zum Vertrag zwischen Philip Morris und der Universität. Darin schlugen die beiden Forscher unter anderem vor, die Frage zu untersuchen, «welche Entwicklungen in der Tabakkontrollforschung zu Plain Packaging in Australien eine Bedrohung für das Interesse von PMI darstellen».
Als dies bekannt wurde, forderten 19 renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von der Universität Zürich, sie solle die Studie zurückziehen – bisher ohne Erfolg.
Auch an Forschungskongressen präsent
Und schliesslich drängt PMI auch an wissenschaftliche Kongresse. Der Beobachter enthüllte im Frühling, wie der Konzern die Tagungen Future Health Basel und Future Health Lausanne sponserte. Nach der Publikation des Beobachter-Artikels verschwand das PMI-Logo von der Website der beiden Veranstaltungen.
Drittes Fazit: Wir bleiben süchtig, weil die Nikotinindustrie viel Geld in die Wissenschaft investiert. Und sich damit Glaubwürdigkeit kauft.
4. Das Ergebnis: Nikotinoase Schweiz
Wegen ihrer laschen Massnahmen gegen das Rauchen liegt die Schweiz auf der europäischen Tabakpräventions-Rangliste auf dem zweitletzten Platz, Grossbritannien gemeinsam mit Irland auf dem ersten. «Die Schweiz scheint mehr am Wohlergehen der Tabakfirmen als an demjenigen ihrer Bevölkerung interessiert zu sein», heisst es in dem Report.
Kein Wunder, ist der Anteil der Raucherinnen und Raucher im Vereinigten Königreich mit 13 Prozent nur gut halb so hoch wie in der Schweiz. Hierzulande rauchen 24 Prozent der über 15-Jährigen regelmässig. Und selbst diese Werte dürften zu tief liegen, wie Forschende 2017 aufgrund von Verkaufszahlen ermittelten. Sie kamen zum Schluss, dass in der Schweiz rund 30 Prozent der über 15-Jährigen rauchen.
Lea wird noch viele Male an diesem Kiosk am Bahnhof Bern vorbeigehen. Was sie dort antrifft, ist das Ergebnis eines jahrzehntelangen Kräftemessens zwischen Präventionspolitik und einer kreativen, schlagkräftigen und kampferprobten Suchtmittelindustrie. Und diese kämpft um jeden Atemzug.
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