Dr. Peter X. Iten (66) hat in 33 Dienstjahren weit über 1000 Tote gesehen und sich dennoch keinen seelischen Schaden geholt – auch keinen Hass auf seine Mitmenschen. Vor Kurzem wurde der Chef-Toxikologe des Zürcher Instituts für Rechtsmedizin (IRM) pensioniert. Es gehe ihm sehr gut, sagt er.
Nur, wenn er an die Anfänge seiner Laufbahn denkt, wird ihm wieder ganz anders. Da war er noch nicht Gerichtschemiker, sondern junger Offizier der Zürcher Kantonspolizei und hatte Pikettdienst. 1982, an einem schönen Sonntag, läutete sein Telefon …
Kurz darauf stand Peter Iten am Schauplatz des schlimmsten Carunglücks, das die Schweiz je erleben musste. In Pfäffikon ZH war ein Reisecar von einem Zug erfasst worden. «Ich bin durch die entgleisten Waggons gegangen und fand als Erstes einen abgetrennten Arm», so der Pensionierte. «Es war der Arm einer Frau. Der Ehering war noch dran.» 39 Menschen waren an diesem Tag gestorben.
«Manchmal braucht es auch eine Prise Zynismus als Überdruckventil.»
Wie verarbeitet man solche Erfahrungen? «Man muss rein fachlich an einen Fall herangehen, so dass er gar nicht in die Tiefe eindringen kann. So kann man sich einen Schutzschild aufbauen. Doch dieser ist auch nicht immer dicht.» Manchmal brauche es auch eine Prise Zynismus als Überdruckventil. Und Humor dürfe auch nicht fehlen.»
Das Unglück von Pfäffikon, sagt Iten ernst, habe seinen seelischen Schutzschild durchbrochen. «Dann trägt man dies sein Leben lang mit sich.»
Ebenso manche Bilder, die ihn nicht mehr loslassen. Zum Beispiel das einer attraktiven Frau im roten Trainer, die er wie schlafend auf dem Boden eines Restaurants vorfand: «Sie lag in einer riesigen Blutlache.» Das Detail, das ihn noch heute irritiert: Die Kleidung der Frau, von ihrem eifersüchtigen Ehemann erstochen, hatte fast dieselbe Farbe wie das Blut.
Wie kam Iten zu seiner Berufung? «Bei meinen Experimenten im Keller des Elternhauses in Zug hat es oft schwer geklöpft.» Also studierte er Chemie. «Naturwissenschaft, das stand für mich fest», erinnert er sich. «Dann war bei der Zürcher Kantonspolizei zufällig die Stelle als Leiter der Kriminaltechnischen Abteilung frei.»
Man schrieb das Jahr 1977, Iten war 33. Neun Jahre blieb er direkt in die Ermittlungen involviert, dann wechselte er ans IRM. Dort leitete er bis 2009 die Abteilung Forensische Chemie/Toxikologie. Er gilt in der Schweiz als Nr. 1 auf diesem Gebiet. Auch im Ausland ist er ein gefragter Gutachter.
Iten war an unzähligen Unfall- und Tatorten. «Nach dem Crossair-Flugzeugabsturz im Januar 2000 in Nassenwil ZH musste ich herausfinden, ob Kapitän und Copilot unter Drogen- oder Alkoholeinfluss gestanden hatten. Dafür mussten Gewebeproben entnommen werden. Als ich die zwei Tische voller Dreck, Gras und menschlicher Überreste sah, ging ich wieder hinaus. Ich sagte den Kollegen: Ihr bringt mir schon, was ich benötige.»
«Den Leichengeruch verträgt man nicht immer gleich gut.»
Die Gerüche waren oft schlimmer als der Anblick: «Der Eisengeruch von Blut – der bleibt in der Erinnerung. Und den Leichengeruch verträgt man auch nicht immer gleich gut ...» Gab es denn nie etwas – man wagt kaum zu fragen – Lustiges, Heiteres? «Klar», sagt Iten und lauscht einen Augenblick den Fröschen in seinem Garten. «Einmal rief mich ein verzweifelter Hauswart an. Er vermutete, dass ein Mieter regelmässig zum Fenster hinaus uriniere.» Iten nahm auch diesen Auftrag ernst: «Wir haben den verdächtigen Stoff abgelöst. Das Ergebnis war positiv. Auf eine DNA-Analyse, um den Täter zweifelsfrei zu identifizieren, verzichtete der Hauswart dann aus Kostengründen.»
Vom Schädel einer Tierarztgattin, den ihr der Mann abgetrennt hatte, bis zu den gruseligen Fassleichen vom Lungernsee (Obwalden) untersuchte Iten beinahe alles, was ihm unters Mikroskop kam. Die zwei Autohändler waren 1999 erschossen und nach Mafia-Sitte in je einem Fass einbetoniert worden. Iten fasst zusammen: «Einmal hatte ich innert einer Woche Pikettdienst sage und schreibe zwanzig Todesfälle.»
Auch im Ruhestand wird es ihm nicht langweilig. Zurzeit steht Peter Iten auf dem Gerüst seines kleinen Einfamilienhauses am Greifensee und hilft bei der Renovierung. In seinem Büro wartet das Manuskript zur Neuauflage seines Standardwerkes: «Fahren unter Drogen und Medikamenteneinfluss.»
Nebenbei rechnete er aus, wie viele toxikologische Gutachten er in seinem Labor geschrieben hatte. Es waren etwa 9000 – und rund 138 000 Blutalkohol-Analysen, zusammengerechnet 35 000 Jahre Fahrausweisentzug.
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