Menschen mit einer kurzen Lunte werden Hitzköpfe genannt. Zu Recht?
Thomas Müller: Das ist eine Frage der Selbstkontrolle. Der vordere Teil des Gehirns hat die Aufgabe zu hemmen. Bestimmte Persönlichkeiten sind impulsiver als andere, haben also eine kürzere Lunte. Und dann gibt es Faktoren, die das Vorderhirn enthemmen: Alkohol, Drogen, Stress. Oder das Wetter …
Warmes Wetter?
Tatsächlich. Es gibt ein paar faszinierende Studien aus den 60er- und 70er-Jahren. In Arizona untersuchte man, wie häufig bei welcher Aussentemperatur gehupt wird. Damals hatten noch nicht so viele Autos Klimaanlagen. Bei mehr Hitze wurde mehr gehupt. Durch die heissen Temperaturen im Auto wurden die Leute aggressiv und genervt.
Auch Sie haben eine interessante Studie durchgeführt. Die Erkenntnisse werden demnächst unter dem Titel «Wenn uns das Wetter verrückt macht» veröffentlicht.
Wir haben alle Eintrittsdaten von Patienten der Universitären Psychiatrischen Dienste Bern seit 1973 in unser Modell eingespeist – fast 100000 Datensätze. Und wir sehen sehr schön: Um die Tage mit aussergewöhnlicher Hitze kam es zu einer vermehrten Aufnahme von Fällen in der Klinik.
Der 52-Jährige ist seit zweieinhalb Jahren ärztlicher Direktor der Berner Privatklinik Meiringen. Zuvor arbeitete und forschte Müller 18 Jahre lang bei den Universitären Psychiatrischen Diensten Bern. Müller studierte Humanmedizin in Würzburg (D). Er ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. Seine Studie «Wenn uns das Wetter verrückt macht» soll bald in einem wissenschaftlichen Fachblatt veröffentlicht werden.
Der 52-Jährige ist seit zweieinhalb Jahren ärztlicher Direktor der Berner Privatklinik Meiringen. Zuvor arbeitete und forschte Müller 18 Jahre lang bei den Universitären Psychiatrischen Diensten Bern. Müller studierte Humanmedizin in Würzburg (D). Er ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. Seine Studie «Wenn uns das Wetter verrückt macht» soll bald in einem wissenschaftlichen Fachblatt veröffentlicht werden.
Macht das Wetter die Leute verrückt?
Wir konnten es in unserer Klinik in Meiringen beobachten: Am Freitag vor einer Woche – genau zu Beginn der Hitzewelle – registrierten wir die höchste Aufnahmezahl, die wir jemals an einem Abend hatten.
Woran liegt das?
In der Schweiz haben die wenigsten eine Klimaanlage. Wenn die Temperaturen steigen, verdichtet sich der Stress. Psychiatrische Patienten sind da besonders anfällig.
Wer leidet denn besonders?
Eine Studie aus Vietnam zeigt: vor allem Menschen mit Schizophrenie und Demenz. Eine Mitarbeiterin von mir hat zudem eine Meta-Analyse durchgeführt, die zeigt: Hitze führt zu mehr Suiziden.
Hitze ist gleich Stress: Das ist nicht nur bei psychisch Erkrankten so.
Bei einem gesunden Menschen braucht es einen sehr starken Auslöser, bis es zur psychiatrischen Auffälligkeit kommt – zum Beispiel einen Autounfall oder eine Naturkatastrophe. Dann gibt es Menschen, die bereits eine bestimmte Anlage haben. Da reicht ein einfacher Trigger, bis es zur Krankheit kommt.
Wir sind also nicht alle gleich gefährdet?
Ich leide unter dieser Hitze, aber ich fühle mich psychisch gesund. Menschen mit Schizophrenie allerdings sind besonders hitzeempfindlich. Sie nehmen teilweise Medikamente, die diese Empfindlichkeit noch verstärken. Aber betroffen sind wohl alle psychisch Erkrankten.
Man redet ja immer von der Winterdepression. Müsste es Sommerdepression heissen?
Ich würde es eher Hitzekrise nennen.
Und die verstärkt sich durch den Klimawandel?
Den Effekt konnten wir schon 1973 nachweisen. Durch den Klimawandel wird er immer stärker.
Gibts eigentlich auch positive Effekte der Hitze?
Viele Menschen mögen etwas höhere Temperaturen. Sicher gibts auch positive Effekte. Aber nur bis zu einem bestimmten Mass. Wenn es konstant heiss ist und man sich nicht mehr erholen kann, kippt das Ganze.
Derzeit wirds auch nachts kaum kühler als 20 Grad.
Genau. Ein entscheidender Faktor sind die Tropennächte – also Nächte, in denen die Temperaturen nicht unter 20 Grad fallen. Da sind die Daten besonders signifikant.
Können wir uns dagegen schützen?
Sehr wohl. Der Mensch ist adaptionsfähig. Wir sitzen hier in einem klimatisierten Raum. Wir können also manches korrigieren. Aber plötzliche Hitzeschocks lösen immer Stress aus.
Dann werden wir in Zukunft mehr Klimaanlagen verbauen müssen?
Sicherlich werden wir anders bauen müssen. Es braucht mehr Klimaanlagen, auch in Privathaushalten. 35 Grad sind ja sonst kaum mehr erträglich. Grosse Teile der Welt werden wohl nur noch klimatisiert funktionieren. Das ist teilweise schon heute so. Wir haben bei uns in Meiringen BE immer wieder arabische Patienten. Und die beschweren sich über die Hitze in den Räumen. Sie sind sich ungekühlte Räume nicht gewöhnt.
Wir sind ja noch eine eher kühle Region. Wie gehen denn Menschen in warmen Ländern damit um?
Es wäre spannend, dies zu untersuchen. Die Schwelle liegt wohl irgendwo bei 32, 33 Grad, ab da wird Hitze zu Stress. Man weiss auch: Je nördlicher die Bevölkerung, desto krasser der Unterschied. Die Inuit in Grönland leiden am meisten unter dem Klimawandel. Aber auch für mich sind 35 Grad qualvoll.
Sie plädieren dafür, den Klimawandel nicht nur aus ökologischer, sondern vor allem auch aus psychischer Sicht zu untersuchen.
Man redet von einer Zunahme von Malaria und die Tigermücke hats auch schon über die Alpen geschafft. Aber wie immer ist das Stigma bei psychischen Erkrankungen am grössten.
Das sind aber keine schönen Aussichten.
Ich will nicht auf Alarmismus machen. Aber man muss sich einfach den Problemen stellen. Letztendlich geht es um zusätzliche Kosten. Und die Kosten durch psychiatrische Behandlungen sind immens.