Die Abgesandten aus der Schweiz waren in einem unauffälligen Auto der Marke Kia unterwegs. 14 Stunden dauerte die Fahrt vom Thurgau in die 1400 Kilometer entfernte kalabrische Provinz. Auf der Autostrada del Mediterraneo nahmen sie die Ausfahrt Rosarno und steuerten die nahen Orangenhaine an. Was sie nicht ahnten: Auf dem Weg zur Plantage ihres Bekannten Domenico «Micu» Oppedisano (86) passierten sie einen versteckten Kontrollpunkt.
Die Polizei identifizierte die Insassen des Autos mit Schweizer Nummernschild als Michele O. (34), seinen Vater Giuseppe O. (58) und Romeo C. (44), alle wohnhaft im Thurgau. Die Beamten sahen, wie sich die Männer zur Begrüssung nach Mafia-Art küssten. Und sie hörten mit, wie sie sich über die Aufteilung verschiedener Regionen zwischen übergeordneten und unterstellten Familien berieten.
Verwanzte Orangen-Bäume
Wie das gelang? Die Ermittler hatten die Orangenbäume verwanzt. Deren Besitzer Micu war 2009 von den Vertretern aller ’Ndrangheta-Crimini zum Boss des Crimine (Provinz; Red.) von Polsi gewählt worden und somit der Boss aller ’Ndranghetisti.
Micus Auffliegen hatte dazu geführt, dass in einer Kaskade von Ermittlungen weltweit mittlerweile 300 Mafiosi enttarnt und verhaftet werden konnten – so auch die Thurgauer Società.
Ein Video ihres Treffens ging 2014 um die Welt. Am Montag müssen sie sich vor dem Strafgericht in Reggio Calabria verantworten, der früheren Provinzhauptstadt. Ihre Bosse Antonio N. (68) und Raffaele A. (77) wurden in erster Instanz zu zwölf und 14 Jahren verurteilt. Demnächst steht ihr Revisionsprozess an.
Trotz dieses Erfolgs dauern die Ermittlungen im Nachgang zur Verhaftung von ‘Ndrangheta-Boss Oppedisano noch immer an. Regelmässig geben die italienischen Behörden ihre Erkenntnisse, die im Wesentlichen auf dem Lauschangriff im Organgenhain von Rosarno fussen, an Ermittler in der ganzen Welt weiter – auch an die Schweiz.
Drei ’Ndrangheta-Familien in Zürich aktiv?
Ihre bittere Erkenntnis: In der Schweiz bestehen weitere Mafia-Strukturen. Allein in Zürich sollen drei ’Ndrangheta-Familien aktiv sein. Weitere Spuren führen zu Clans im Tessin und in der Westschweiz.
Die Ermittler in Italien gehen davon aus, dass in der Schweiz eine übergeordnete regionale Organisation existiert, ein sogenanntes Crimine, das die Geschäfte von Schweizer und süddeutschen ’Ndrangheta-Mitgliedern steuert.
Die Bundesanwaltschaft (BA) führt derzeit «mehrere Verfahren gegen kriminelle Organisationen in der Schweiz», wie Bundesanwalt Michael Lauber (51) im Interview mit SonntagsBlick bestätigt.
Doch die Schweizer führen ihre Ermittlungen in erster Linie, um ihre Kollegen in Italien bei deren parallel laufenden Verfahren zu unterstützen. Denn mit dem heute geltenden Strafrahmen für Mafiamitglieder von maximal fünf Jahren Haft wäre eine Anklage in der Schweiz weder «verhältnismässig noch sinnvoll», so Lauber.
53 Milliarden Dollar Umsatz in einem Jahr
53 Milliarden Dollar Umsatz erwirtschaftete die ’ Ndrangehta 2016 weltweit. Das vor allem aus dem Drogenhandel stammende Geld investiert die Organisation auch in der Schweiz: in Immobilien, Restaurants oder Gewerbebetriebe.
Kann die Polizei den Mafiosi Geldwäsche nachweisen, bringt die Bundesanwaltschaft sie zur Anklage. Ein Beschuldigter muss sich im Dezember wegen Unterstützung einer ’Ndrangheta-Zelle vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona verantworten. Mit zwei weiteren Angeklagten soll er mehr als 1,5 Millionen Franken in Tessiner Immobilien investiert haben.
Das Geld stammte aus dem Drogenhandel. Nicht nur die ‘Ndrangheta, auch die sizilianische Mafia und die Camorra aus Kampanien sind in der Schweiz aktiv. Zuletzt hob die Polizei in Zürich eine italienische Modefirma aus, die mit gefälschten Markenprodukten handelte.
Suche nach neuen Geschäftsfeldern
Ihren Gewinn übermittelten die Zürcher Strohmänner per Geldtransfer an die Bosse in Neapel – inzwischen wurde das Unternehmen aufgelöst. Zunehmend sucht die Mafia neue Geschäftsfelder wie Menschenhandel oder Müllentsorgung. Denn wenn die Schweiz ihnen nicht entschieden entgegentritt, bauen die Mafiosi ihre wirtschaftliche Macht aus und nehmen – wie in Italien – Einfluss auf die Politik.
Der sizilianische Journalist und ehemalige Parlamentsabgeordnete Francesco Forgione (57) schätzt, dass die grossen drei Mafia-Organisationen weltweit zwischen 120 und 180 Milliarden Euro pro Jahr erwirtschaften – den Umfang des italienischen Staatshaushalts. Experten schätzen, dass 80 Prozent des in Europa konsumierten Kokains von der ’Ndrangheta geschmuggelt wurden, daher ihre grosse Macht. Forgione: «Die Mafia bricht Menschenrechte und nagt an den Grundfesten der Demokratie.»
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