Man stelle sich vor: Europas führende Politiker versuchen, die Flüchtlingskrise gemeinschaftlich zu lösen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron schlägt einen europäischen Verteilmechanismus für die Neuankömmlinge vor. Sein spanischer Amtskollege Pedro Sánchez wirft begeistert beide Hände in die Luft – die polnischen und ungarischen Vertreter richten die ihren Richtung Boden. Matteo Salvini poltert dazwischen. Ein Tumult entsteht.
Kanzlerin Angela Merkel formt mit ihren Händen ein kleines Dach über dem Kopf – um anzuzeigen, dass sie sich unwohl fühlt. Sie darf sofort sprechen.
Die Frau aus Deutschland erinnert an die gemeinsamen Werte aller Anwesenden. Quer durch die Sitzreihen bilden die Staats- und Regierungschefs jetzt mit ihren Händen ein Herz. Sie wollen sagen: Deine Worte, Angela, berühren uns.
Tage der Basisdemokratie
Mit dieser Zeichensprache operierten die Diskussionen beim ersten Klimagipfel der «Fridays for Future»-Bewegung in Lausanne – jedenfalls in den besten Momenten: Die Tage von Montag bis Freitag gehörten der Basisdemokratie. Jeder wird gehört, zumindest wahrgenommen. Egal, ob es um die Abstimmung übers Abendessen geht oder darum, wie radikal der Protest bei den von Greta Thunberg angestossenen Klimastreiks in Zukunft ausfallen soll.
Holokratie nennt sich das Konzept, die Herrschaft von allen. Denn die junge Bewegung will «selbst organisierend» sein, ohne irgendwelche zentralen Hierarchien. Um eine möglichst breite Machtverteilung zu garantieren, spricht niemand für die gesamte Bewegung. Und statt harten Abstimmungen setzt die Klimajugend auf Konsens. Wer mit einem aus Händen geformten Dach über dem Kopf anzeigt, dass er oder sie sich unwohl fühlt, hat automatisch Rederecht – sogar im Plenum mit rund 450 Teilnehmern.
Doch die netteste Diskussionskultur der Welt hat so ihre Schattenseiten. Mitte der Woche kam es in Lausanne zum grossen Eklat, weil sich Teilnehmer aus 38 Ländern nicht einigen konnten, ob sie überhaupt Forderungen veröffentlichen wollen und wie konkret sie sein sollen. Im Hintergrund hatten sich – also doch! – inoffizielle Hierarchien gebildet; vor allem die Schweizer drängten nach vorne – und andere in den Hintergrund. Tränen flossen, Teenies brachen zusammen, eine kleine Gruppe bestreikte die Streikbewegung vor dem Saal.
Demokratie will trainiert sein
«Wir bräuchten jemanden, der Ansagen macht», sagt ein 17-jähriger Iraner, der in Deutschland lebt. «Wenn jemand gewählt werden würde, wäre das demokratischer als das, was jetzt passiert!»
Bringt die Basisdemokratie ausgerechnet das hervor, was sie verhindern will? Wie manche anderen Teilnehmer kann der 17-Jährige dem Zoff am Ende doch einiges abgewinnen: «Wenn man alles einfach durchwinkt, ist das ja wie Nordkorea.» Eine österreichische Teilnehmerin denkt darüber nach, wie sie verhindern kann, dass männliche Teilnehmer wieder die Diskussion an sich reissen.
«Ich muss mich selbst schneller in Diskussionen einbringen.»
Und einer der Gipfel-Organisatoren entschuldigt sich bei Journalisten, nachdem sie aus dem Saal verbannt worden waren. Vielleicht muss Demokratie, egal in welcher Form, auch einfach trainiert werden wie ein Muskel.
Am Tag nach dem Knall tagt eine der Arbeitsgruppen mitten auf der Treppe in der Eingangshalle der Uni Lausanne, auch Greta ist dabei. Die Bereitschaft, zusammenzuarbeiten, ist trotz aller Konflikte ungebrochen.