Pedro Lenz, Sie kommentieren im neuen Kino-Dokumentarfilm «Mitten ins Land» die Bewohner im Schweizer Mittelland. Was stört Sie an Ihrer Heimat?
Pedro Lenz: Wir studieren an einer Schweiz herum, die es schon lange nicht mehr gibt, wollen etwas verkaufen, das es vermutlich auch nie gab! Das Heidiland Schweiz, die Schweiz vom Wilhelm Tell, diese Morgarten-Schweiz, die uns in der Schule statt jener von 1848 beigebracht wird. Es regt mich wahnsinnig auf, dass wir die heile Welt von vor 100 Jahren zelebrieren.
Das Schweizer TV portiert auch lieber die Landfrauenküche statt jene des Oltner Bahnhofbuffets. Romantisieren wir unser Land?
So gern ich diese Frauen mag − wir sind eine urbane Nation, auch wenn wir uns als Ländler ausgeben. Ich setze diesem veralteten Bild auch mit dem Film «Mitten ins Land» eine offene und integrative Schweiz entgegen. Ich will darin zeigen, dass Menschen aus der ganzen Welt unser Land gestalten.
Sie haben als Linker eine romantische Multikulti-Vorstellung.
Nein! Ich habe für den Film einen Mann besucht, der die Drecksarbeit in der Deponie von Kölliken leistet. War mit Volkan Inler, dem Bruder von Fussballstar Gökhan Inler, auf Entsorgungstour und habe ihn abends im Fussballklub besucht. Um zu sehen, mit welcher Selbstverständlichkeit dort zehn Nationen ohne Probleme miteinander kicken: etwa Kosovaren, Italiener, Schweizer, Spanier oder Türken. Im gelebten Leben haben wir kein Integrationsproblem.
Wieso gibt es Überfremdungsangst?
Weil man sich nicht kennt. Ich habe auch keinen Asylsuchenden im Freundeskreis. Im Emmental hatte sich eine Gemeinde einst eisern gegen die neuen Nachbarn aus aller Welt gewehrt, dann sich vor ihnen gefürchtet. Bis zum ersten Schnee. Da sammelte eine Dorfbewohnerin Schlitten für die Kinder im Heim. Als alle zusammen den Hügel runterfuhren, hatte keiner mehr Angst und die Emmentaler waren stolz auf ihr Asylzentrum.
Sie tun real existierende Ängste ab.
Alle Abstimmungen über Ausländer holen dort am meisten Zustimmung, wo es keine Fremden gibt. Verantwortlich dafür ist auch jene Morgarten-Schweiz, die immer noch besungen wird. Einen, der Kosovaren vom Fussballplatz her kennt, kann man nicht reinlegen mit Sätzen wie: «Alle Kosovaren sind Messerstecher.» Alle Vorurteile, die wir in diesem Land haben, passieren aus Unkenntnis. Ich plädiere für hinschauen, hingehen, austauschen.
Sie reden jedes Jahr am 1. Mai, nennen Ihr Publikum dort Genossen. Viele Ihrer Generation sagen aber: Wenn du vor 30 nicht links bist, hast du kein Herz – wenn du es danach noch bist, bist du dumm. Warum sind Sie nicht bürgerlicher geworden?
Es gibt halt viele, die mit 40 finanziell etablierter sind und keine Steuern zahlen wollen. Aber mir geht es nicht einmal um eine Partei. Mir geht es um eine Lebenshaltung: Mich haben schon meine Eltern gelehrt, dass man aufeinander schauen sollte. Und Parteinahme für die Schwächeren wird immer nötiger! Die Schere zwischen den Ärmsten und den Reichsten driftet immer mehr auseinander. Ich habe darum überhaupt kein Verständnis für jemanden, der mal links war und es nicht mehr ist, weil er etwas geerbt hat.
Zahlen Sie denn gerne Steuern?
Ich mache keine Jubelschreie, wenn ich den Einzahlungsschein ausfülle. Aber mir ist bewusst, dass dies ein Ausdruck dafür ist, dass es mir jetzt gut geht. Also kann ich auch meinen Beitrag für die Gemeinschaft leisten. Das erfüllt mich mit Stolz. Wir müssen endlich kollektiver denken. Wenn ein Unternehmer Geschäfte über die Landesgrenze hinaus macht, als Politiker aber sagt, wir sollten nicht in die Welt rausgehen und mitpolitisieren, finde ich das heuchlerisch!
Thomas Minder sagt, Einkaufstouristen seien Landesverräter. Kaufen Sie auch jenseits der Grenze ein?
Wir Schweizer sind Rosinenpicker. Wir haben die guten Löhne, gehen dann aber zu den Deutschen einkaufen. Das ist unsolidarisch. Genauso wie wenn ich keine drei Franken mehr für eine Zeitung ausgebe, weil es sie ja gratis in einer Kiste gibt. Beides ist der Anfang des Untergangs für das Kollektiv. Aber diesen Menschen geht es sowieso nur darum, dem Konsum zu frönen, aber nichts dafür zu geben.
Die Einkaufstouristen sind also die Maxime des Kapitalismus?
Es ist eine Schlaumeierei. Wir wissen nicht mehr, was wir mit uns anfangen sollen, und gehen halt am Samstag shoppen. Aber man könnte doch auch in ein Museum oder schlitteln. Wenn ich fünf Paar Hosen habe, brauche ich nicht weitere zehn.
Sie predigen den Verzicht.
Ich bin sicher nicht der Bruder Klaus. Ich habe lieber einen teureren Wein als einen billigen, das ist nur schon für den Magen besser. Auch wenn ich ins Biolädeli gehe und teurere Produkte kaufe, ist das ein Zeichen meiner Lebenshaltung.
Wie geht es Ihnen denn finanziell?
Recht gut, ich lebe wie ein Seklehrer. Aber schon früher habe ich im Biolädeli den teuren Käse gekauft – der ist mir sicher nicht vergammelt.
Sie haben als 30-Jähriger die Erwachsenenmatur nachgeholt, waren zuvor Maurer. Was haben Sie auf dem Bau eigentlich fürs Leben als Intellektueller gelernt?
Niemanden zu unterschätzen. Wenn mein Gegenüber eine andere Allgemeinbildung hat, ist der noch lange kein dummer Mensch. Das vergessen die Intellektuellen. Es gibt so viele, die jeden Morgen rausgehen und unspektakulär ihren Beitrag für die Gesellschaft leisten. Und für diese Menschen bin ich Linker: Die Löhne der Maurer, Gipser und Eisenleger sind heute noch tiefer als damals.
Und für den «Mann im Mond», wie Sie den Abfallarbeiter der Deponie Kölliken im Film beschreiben.
Er ist mein Held! Wenn dem die Gasmaske verrutscht, hat er ein gröberes Problem. Mir wird immer wieder gesagt: «Läck, du bist Schriftsteller, ich will auch.» Den Leuten gehts nur ums Berühmtsein. Mir um die Kunst.
Ohne Applaus würden Sie verkümmern!
Ja, ökonomisch! (Lacht) Wenn ich mich öffentlich nicht zeige, bleibe ich nicht im Geschäft.
Sie waren jahrelang die Galionsfigur der Underdogs. Dies können Sie mit Ihrem Erfolg aber nicht mehr in Anspruch nehmen.
Jetzt will ich einfach der Anwalt der Underdogs sein.
Dafür sollten Sie aber nicht ständig erste Klasse fahren.
Wenn ich einen Klassenwechsel löse, ist es wirklich nur, weil ich noch schreiben muss und die zweite überfüllt ist.
Sie brauchen doch Menschen als Inspiration?
In der Bahnhofsbeiz Eisenbähnli in Olten hocken viele Pensionierte, Arbeitslose, SBB-Mitarbeiter, eigentlich alles. Dort sitze ich oft.
Aber genau die Leute am Stammtisch stehen Ihnen politisch überhaupt nicht nahe.
Ich höre oft: «Lenz, du bist ein Träumer!» Aber diese Menschen denken rassistisch, weil sie selbst am Rande leben. Sie haben Angst, ihren Job zu verlieren, weil sie selbst nicht mehr die Schnellsten sind. Und ich sage ihnen: «Ich nehme dich ernst, aber vielleicht säufst du einfach zu viel. Vielleicht hast du dich auch zu wenig weitergebildet.» Ein Schweizer Polier ist heute verbittert. Oder wenn einer nur 3500 Franken verdient und sieht, dass andere vom Sozialamt leben und BMW fahren. Nicht der Typ vom Sozialamt ist der Sauhund, sondern diejenigen, die solche Löhne bezahlen!
Wo hört Akzeptanz für Kulturschaffende auf, wo fängt Ausländerfeindlichkeit an? Andreas Thiel sorgte mit seiner Sicht auf den Islam für Kontroversen.
Ich kenne Ändu gut, er ist ein lieber Mensch. Und dass ihn die Lektüre des Korans schockierte, hat wohl vor allem damit zu tun, dass er nicht so viel im Alten Testament gelesen hat. Mit seiner persönlichen Koranauslegung schürt er Hass, ist ein Brandstifter und hetzt die Menschen auf. Das hilft weder den Christen noch den Muslimen.
Darf man als Kulturschaffender denn nicht kommentieren?
Es hat Grenzen, wir haben eine Verantwortung der Öffentlichkeit gegenüber.
Ihr Instrument ist Berndeutsch. Im Film «Mitten ins Land» veräppeln Sie den Migranten-Slang. Ist diese extra falsche Sprache ein Mittel, sich aufzulehnen?
Die Sprache wird als Machtmittel missbraucht. Wenn wir jemandem sagen, du kannst ja noch nicht mal einen Satz gerade schreiben, machen wir das, um ihn klein zu halten. Immer wieder kommen Leute mit einem Brief zu mir, fragen, ob ich den nicht schnell durchschauen kann. Und ich denke: Jessesgott! Aber wer trägt Schuld, dass der Mann nach neun Jahren Schule nicht Deutsch schreiben kann? Statt ihn auszulachen, sollte man ihm gescheiter erklären, er solle doch einen Erwachsenenkurs machen.
Warum schreiben Sie eigentlich nicht auf Schriftdeutsch? Würde die Seele dann verloren gehen?
Es gibt einen doppelten Irrtum mit der Schweizer Mundart. Es gibt jene, die sie vernichten: Das sei keine Literatursprache, es gibt ja nicht einmal ein Imperfekt oder Futur. Und es gibt jene, die sie auf einen Altar hochstellen. Beides ist Quatsch! Ich habe schriftdeutsche Bücher geschrieben, es interessiert mich nicht mehr.
Im Film sagen Sie: «Mis Läbe isch fahre, fahre, fahre, immer fahre. Und mängisch fahrts mer ii.»
Ich zahle einen sehr hohen Preis für mein interessantes Leben als Schriftsteller. Ich bin ständig unterwegs und bin mängisch für meine Nächsten unzumutbar. Manchmal fährt es mir beispielsweise bei einer Klassenzusammenkunft ein. Da sehe ich die alten Freunde, die haben Kinder, ein Haus und kommen um fünf Uhr heim.
Sie werden im März 50. Ziehen Sie Bilanz?
Nicht wegen der Zahl 50. Aber ich mache mir sowieso immer wieder solche Gedanken. Gedanken zum Älterwerden, Gedanken darüber, was ich noch möchte in den Jahren, die noch bleiben. Dass ich 50 werde, kann ich gut akzeptieren. Ich bin einigermassen gesund, es geht mir gut. Das ist ein Geschenk, zu dem ich nicht so viel beigetragen habe.
Sie haben neue Zähne. Ist das Eitelkeit?
Ich konnte mir früher keine bessere Zahnbehandlung leisten. Jetzt muss es sein, sonst würde sich das Zahnfleisch zurückbilden. Vielleicht hat es auch etwas damit zu tun, dass ich immer mehr in Kameras lächle.
Was ist der Sinn des Lebens?
Ich bin etwas agnostisch, was den Rest nach dem Leben betrifft. Ich sage, ich weiss nicht, was danach kommt …
Sie waren früher katholischer Jugendarbeiter.
Ich gehe jetzt noch in die Kirche, einfach ab und zu. Deshalb bin ich nicht fromm.
Der christliche Ansatz der Nächstenliebe als Glaubensaufgabe ist Ihnen nahe?
Genau das nehme ich aus dieser Religion. Viele unserer Grundwerte sind kulturell christlich geprägt.
Beten Sie?
Ja, aber nur in der Kirche. Ich sehe Glaube als etwas Gemeinsames. Es bringt mir ja nichts, wenn ich in den Himmel komme und niemand ist da oben (lacht). Ich habe etwas gegen diesen Privatglauben und Leute, die nur für sich und ihre Lieben beten. Mein Jesusbild holt die vom Rand in die Mitte. Das sehe ich auch so beim Schreiben und im Leben: Ich will die vom Rand in die Mitte holen.