Monsterdebatte zur Zuwanderung
Fluri gewinnt mit Minimal-Variante

Der Nationalrat will nichts wissen von Kontingenten. Das Volk soll sich mit dem Inländervorrang light begnügen. Die SVP tobte und hofft auf den Ständerat.
Publiziert: 22.09.2016 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 01.10.2018 um 01:14 Uhr
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Der Solothurner Stadtpräsident Kurt Fluri, Vater des Inländervorrangs light, war der Buhmann.
Foto: Keystone
Christof Vuille und Sermîn Faki

Sieben Stunden und 17 Minuten dauerte die Mutter aller Polit-Schlachten. Die Debatte um die Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative hatte alle Zutaten für einen Krimi: Relevanz, Machtdemonstrationen und persönliche Anfeindungen.

Im Zentrum: die Schweizerische Volkspartei. Sie wusste sich gut in Szene zu setzen, unterlag aber in allen Punkten. Die grosse Kammer folgt der vorberatenden Staatspolitischen Kommission und setzt auf den Inländervorrang light. Mit dieser abenteuerlichen Wortkreation soll der Bundesrat das inländische Potenzial an Arbeitskräften besser ausnutzen. Konkret: Wird ein – noch nicht definierter – Wert der Zuwanderung überschritten, sollen die Arbeitgeber offene Stellen den Arbeitsvermittlungszentren melden.

Von «Kontingenten» und «Höchstzahlen», wie das die von Volk und Ständen angenommene Initiative verlangt, ist weit und breit keine Spur mehr. Die Sieger vom 9. Februar 2014 wussten vor der Debatte, dass sie mit ihren Forderungen auf verlorenem Posten stehen würden. Die SVP versuchte, das Beste daraus zu machen: Konsequent attackierten ihre Vertreter während der dreistündigen Eintretensdiskussion FDP-Nationalrat Kurt Fluri.

Fluri war der Buhmann

Der Solothurner Stadtpräsident gilt als «Architekt» der umstrittenen Lösung und musste einiges einstecken. Die Angriffe liess er seelenruhig über sich ergehen. Erst als das Gewitter vorbei war, erklärte er, dass ihm manche Voten «zu dumm» seien, um darauf zu reagieren: «Da stellt man die Ohren am besten auf Durchzug.»

Die Rechtspartei verarbeitete ihren Frust mit einer im Nationalrat ungewohnten Strategie. Nach der kurzen Rede von Fraktionschef Adrian Amstutz stellten sich SVP-Räte in Reih und Glied auf, um dem «Boss» Gefälligkeitsfragen zu stellen.

Thomas Matter etwa wollte plakativ wissen, ob «der anstehende Verfassungsbruch einmalig in der Geschichte der Eidgenossenschaft» sei. Amstutz fand das – keine Überraschung – eine «gute Frage». Danach gabs entsprechende Steilpässe von Toni Brunner, Roger Köppel, Gregor Rutz, Hans-Ueli Vogt und Magdalena Martullo-Blocher, unter anderen. SVP-Stratege Amstutz verhehlte nicht, dass diese «Fragen» für die Bühne gestellt wurden – SRF übertrug gerade live.

Die ungewöhnliche, aber zulässige Aktion sorgte bei der Konkurrenz für Heiterkeit, später aber auch Ärger. SP-Vertreter Cédric Wermuth wollte das Theater nicht als «Kindergarten» bezeichnen, denn: «Das wäre eine Beleidigung für die Kindergärtner.»

Die Trotzreaktion der SVP ist indes verständlich. Selbst Fluri räumte ein, dass der Inländervorrang light die Initiative «nur in geringem Umfang» umsetze. Konsequent warnten Vertreter von Rot-Grün und FDP aber vor einer drohenden Kündigung der bilateralen Verträge durch die EU. Dabei seien diese vom Volk mehrmals bestätigt worden. Diese Argumentation überzeugte die Mehrheit des Rats. Sie nahm die Fluri-Lösung an mit 126 zu 67 Stimmen bei drei Enthaltungen.

Keinen Erfolg hatte auch die CVP. Präsident Gerhard Pfister versuchte nach einer Kehrtwende, die Umsetzung näher am Verfassungstext zu gestalten.

Doch die Forderungen nach einer sofortigen Stellenmeldepflicht oder Höchstzahlen als Ultima Ratio scheiterten knapp an der Allianz von Linken, Freisinn, BDP und GLP. Immerhin ein CVP-Antrag kam durch: Kurzaufenthalter bis zu neun Monaten werden von den Massnahmen ausgenommen.

Der SVP gingen Pfisters Forderungen ohnehin zu wenig weit – auch wenn sie seine Anträge unterstützte. Wortführer Gregor Rutz sagte am späten Abend zu BLICK, man setze nun auf den Ständerat. «Ich hoffe, dass zumindest dort die Vernunft siegt.»

Im Getöse ging dabei fast unter, dass der Nationalrat noch einen draufsetzte: Ein Grossteil der Zuwanderer aus Drittstaaten soll nach seinem Willen von den Kontingenten ausgenommen werden.

Eine ganz schlechte Pointe

Kommentar von Peter Röthlisberger, Chefredaktor

Was hat die Mehrheit des Volkes am 9. Februar 2014 gewollt? Dass die Schweiz den Zustrom ausländischer Arbeitskräfte eigenständig bestimmen kann, inklusive Höchstzahlen und Kontingenten.

Was hat es heute vom Parlament bekommen? Eine sanfte Bevorzugung von Inländern in der ­Zuwanderungsfrage. Noch nie stand ein Ausführungsgesetz in einem solch eklatanten Widerspruch zur Verfassungsnorm. Weniger Volkswillen geht nicht. Der Nationalrat hat sich mit seinem Abstimmungsergebnis nicht gutschweizerisch eingemittet zwischen den Zwängen der bilateralen Verträge und dem Willen der 50,3 Prozent der Stimmbürger, die die Einwanderung spürbar beschränken wollten. Er hat sich für ein Gesetz entschieden, das mit dem Verfassungsartikel nichts mehr zu tun hat.

Die zweieinhalb Jahre bis zum heutigen Entscheid waren ein Frust. Die Verhandlungen mit Brüssel eine Blackbox. Wollte man überhaupt? Hat man es ernsthaft versucht? Und wieso hat sich die SVP immer um eine klare Ansage gedrückt? Nie Höchstzahlen nennen wollen, nie einen Kompromiss angeboten?

Wieso ist sich die FDP und die ­Linke so sicher, dass alle anderen Verträge der Bilateralen tatsächlich guillotiniert worden wären, hätte die Schweiz einzig das Freizügigkeitsabkommen gekündigt? Die ilateralen waren kein Geschenk an die Schweiz. Die EU hatte ihre handfesten Interessen verfolgt. Und die hat sie noch immer.

Die Politiker haben einen schlechten Job gemacht. Sie nehmen die Mehrheit der Stimmbürger nicht ernst. Sie werden den Volksun­willen zu spüren bekommen.

BLICK-Chefredaktor Peter Röthlisberger.
BLICK-Chefredaktor Peter Röthlisberger.
BLICK

Kommentar von Peter Röthlisberger, Chefredaktor

Was hat die Mehrheit des Volkes am 9. Februar 2014 gewollt? Dass die Schweiz den Zustrom ausländischer Arbeitskräfte eigenständig bestimmen kann, inklusive Höchstzahlen und Kontingenten.

Was hat es heute vom Parlament bekommen? Eine sanfte Bevorzugung von Inländern in der ­Zuwanderungsfrage. Noch nie stand ein Ausführungsgesetz in einem solch eklatanten Widerspruch zur Verfassungsnorm. Weniger Volkswillen geht nicht. Der Nationalrat hat sich mit seinem Abstimmungsergebnis nicht gutschweizerisch eingemittet zwischen den Zwängen der bilateralen Verträge und dem Willen der 50,3 Prozent der Stimmbürger, die die Einwanderung spürbar beschränken wollten. Er hat sich für ein Gesetz entschieden, das mit dem Verfassungsartikel nichts mehr zu tun hat.

Die zweieinhalb Jahre bis zum heutigen Entscheid waren ein Frust. Die Verhandlungen mit Brüssel eine Blackbox. Wollte man überhaupt? Hat man es ernsthaft versucht? Und wieso hat sich die SVP immer um eine klare Ansage gedrückt? Nie Höchstzahlen nennen wollen, nie einen Kompromiss angeboten?

Wieso ist sich die FDP und die ­Linke so sicher, dass alle anderen Verträge der Bilateralen tatsächlich guillotiniert worden wären, hätte die Schweiz einzig das Freizügigkeitsabkommen gekündigt? Die ilateralen waren kein Geschenk an die Schweiz. Die EU hatte ihre handfesten Interessen verfolgt. Und die hat sie noch immer.

Die Politiker haben einen schlechten Job gemacht. Sie nehmen die Mehrheit der Stimmbürger nicht ernst. Sie werden den Volksun­willen zu spüren bekommen.

So gehts weiter mit der Masseneinwanderungs-Initiative

Mit dem Entscheid des Nationalrats hat die Umsetzung der ­Masseneinwanderungs-Initiative (MEI) erst begonnen. BLICK zeigt, wie es weitergeht:

10. und 11. Oktober: Staatspolitische Kommission des Ständerats beugt sich über die MEI. Sie muss eine Haltung zur Vorlage finden, wie sie der Nationalrat verabschiedet hat.

Bis Ende Oktober: Bundesrat muss Stellung nehmen zur Volksinitiative «Raus aus der Sackgasse». Diese will die MEI mit der Streichung des entsprechenden Verfassungsartikels rückgängig machen. Interessant wird die Frage sein, ob der Bundesrat ­einen Gegenvorschlag ausarbeiten wird. Dieser hätte wohl das Ziel, die MEI in der Verfassung abzuschwächen.

Ende Oktober: Dann steht das nächste Treffen zwischen Bundespräsident Johann Schneider-Ammann und EU-Präsident Jean-Claude Juncker an. Es bietet immerhin Gelegenheit für einen neuen Versuch, sich doch noch mit der EU gemeinsam auf eine Umsetzung zu einigen.

7. November: Die zuständige Kommission des Ständerats berät erneut die MEI-Vorlage.

Dezember: Ständerat berät in der Wintersession die Vorlage.

Bis 9. Februar 2017: MEI muss gemäss Initiativtext umgesetzt sein.

Mit dem Entscheid des Nationalrats hat die Umsetzung der ­Masseneinwanderungs-Initiative (MEI) erst begonnen. BLICK zeigt, wie es weitergeht:

10. und 11. Oktober: Staatspolitische Kommission des Ständerats beugt sich über die MEI. Sie muss eine Haltung zur Vorlage finden, wie sie der Nationalrat verabschiedet hat.

Bis Ende Oktober: Bundesrat muss Stellung nehmen zur Volksinitiative «Raus aus der Sackgasse». Diese will die MEI mit der Streichung des entsprechenden Verfassungsartikels rückgängig machen. Interessant wird die Frage sein, ob der Bundesrat ­einen Gegenvorschlag ausarbeiten wird. Dieser hätte wohl das Ziel, die MEI in der Verfassung abzuschwächen.

Ende Oktober: Dann steht das nächste Treffen zwischen Bundespräsident Johann Schneider-Ammann und EU-Präsident Jean-Claude Juncker an. Es bietet immerhin Gelegenheit für einen neuen Versuch, sich doch noch mit der EU gemeinsam auf eine Umsetzung zu einigen.

7. November: Die zuständige Kommission des Ständerats berät erneut die MEI-Vorlage.

Dezember: Ständerat berät in der Wintersession die Vorlage.

Bis 9. Februar 2017: MEI muss gemäss Initiativtext umgesetzt sein.

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