Mobbing an den Schulen
So sollen Lehrer Psychoterror in Klassen verhindern

Mobbing an Schulen kann Kindern das Leben zur Hölle machen – und bis zum Suizid führen. In der Ausbildung lernen Lehrer heute, wie sie Schikane verhindern können. Nur: Kommt das Wissen auch zur Anwendung? Es bestehen Zweifel.
Publiziert: 04.03.2019 um 07:40 Uhr
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Aktualisiert: 04.03.2019 um 15:28 Uhr
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Silvia TschuiGesellschafts-Redaktorin

Mobbing – also das gezielte, wiederholte Fertigmachen Einzelner, das von einer Gruppe ausgeht, liegt in der menschlichen Natur.

Schon der mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Verhaltensforscher Konrad Lorenz (1903–1989) sagte sinngemäss, Aggression diene im weitesten Sinne der Arterhaltung – viele Tierarten greifen Artgenossen an, die von der Norm abweichen, und stellen so ihre genetische Unversehrtheit sicher.

Auch Mobbingopfer am Arbeitsplatz oder in der Schule werden oft wegen einer realen oder von Anführern erfundenen Andersartigkeit ausgegrenzt. Treffen kann dies jeden. Was aber im Tierreich oder vielleicht in der Steinzeit auch bei Menschen einen unmittelbaren, genetisch-evolutionären Sinn hatte, dient heute anderem: Mit dem Ausgrenzen anderer lässt sich kurzfristig die eigene soziale Stellung stärken.

Mit schrecklichen Folgen: Opfer leiden gemäss Studien im späteren Leben öfter unter Depressionen und Angststörungen als Vergleichsgruppen. Sie haben auch ein erhöhtes Suizidrisiko. Langfristig gesehen ist Mobbing aber auch für 
Täter schädlich: Sie kommen im Erwachsenenalter öfter mit dem ­Gesetz in Konflikt, etwa wegen Diebstahl oder Körperverletzung, und haben generell eher psychische Probleme, vergleicht man sie mit Menschen, die früher nicht gemobbt haben.

Trotzdem kommt es immer wieder zu Fällen an Schulen, in welchen massiv gemobbt wird – zuletzt in Wiesendangen ZH, wo sich ein 15-jähriges Mädchen nach monatelanger Schikane durch Klassenkameraden zu Tode hungern wollte (BLICK berichtete). 2017 nahm sich die 13-jährige Sabrina aus Spreitenbach AG nach massivem Mobbing das Leben.

Lehrer müssen von Anfang
an eingreifen

Schulen, so stellt sich der Eindruck ein, stehen dem Phänomen hilflos gegenüber, bleiben untätig, schieben die Schuld sogar auf das Opfer. Wissen Lehrer schlicht nicht, wie mit Mobbing umzugehen ist? Eine Nachfrage an fünf pädagogischen Hochschulen in Bern, Zürich, 
St. Gallen, Thurgau und der Nordwestschweiz ergibt: Heute ausgebildete Lehrer wissen dies sehr wohl. An Universitäten und in der Psychologie wird seit den frühen 1990er-Jahren umfassend zu Mobbing 
geforscht. Alle angefragten Hochschulen bieten denn auch innerhalb der Lehrerausbildung Module an, um Mobbing zu minimieren.

Dazu gehören gemäss Alexander Wettstein, Leiter des Forschungsschwerpunkts Soziale Interaktion und Professor für Pädagogische Psychologie an der PH Bern, vier Zutaten. Eine gute Lehrer-Schüler-Beziehung sei das Wichtigste, gefolgt von «niederschwellig präventivem Eingreifen». Das bedeutet, dass die Lehrperson schon bei kleinen Verfehlungen reagiert und eingreift – etwa wenn Klassenkameraden lachen, wenn ein Schüler etwas Falsches sagt. «Dann sofort einzugreifen und zu sagen, solch ein Verhalten dulde ich in meiner Klasse nicht, so gehen wir nicht miteinander um – dies hat einen grossen Einfluss», sagt Wettstein.

Ein solches Klima von Anfang an zu schaffen, habe eine enorme Wirkung innerhalb der Klasse und könne so potenziellem Mobbing einen guten Teil des Nährbodens entziehen. Auch ein anregender Unterricht hilft – wer aufpasst und interessiert ist, kommt seltener auf dumme Gedanken als jemand, der sich langweilt. Zu guter Letzt, sagt Wettstein, gehöre eine «diagnostische Kompetenz» zu den vier Zutaten, welche Mobbing verhindern.
Darunter versteht er, als Lehr-person ein Gespür dafür zu entwickeln, wann etwas nicht in Ordnung ist in der Klasse. Dafür seien zwei, drei Jahre Berufspraxis nötig. Überhaupt sei die Klassenführung fast das Wichtigste: «Lehrerkarrieren scheitern nicht an der Fachdidaktik. Lehrerkarrieren scheitern an der Klassenführung.»

Mobbing ist ein Gruppenproblem

Mobbing, ist sich die Forschung einig, betrifft nicht nur Opfer und Täter, sondern ist ein Gruppenproblem. Jeder innerhalb der Gruppe hält eine Rolle inne. Es sind deren sechs verschiedene. Auf der negativen Seite sind das – neben Opfer und Täter – die «Assistenten» der Täter. Die, welche mitmachen, wenn der Haupttäter mit dem Schikanieren angefangen hat. Der Begriff «Verstärker» bezeichnet jene, welche zusehen, lachen und den Täter und seine Assistenten so in ihrem Verhalten bestärken.

Auf der positiven Seite gibt es die «Verteidiger». Das sind innerhalb einer Gruppe jene, welche den anderen sagen, sie sollen aufhören, das Opfer nach einer Attacke trösten oder ihm nahelegen, die Schikane dem Lehrer mitzuteilen. Und dann gibt es noch die, welche möglichst nichts mit der Sache zu tun haben wollen und sich abwenden oder weggehen, wenn sie Zeuge einer Schikane werden – die sogenannten «Aussenstehenden».

Um Mobbing zu unterbinden, muss der Prozess, der die ganze Gruppe betrifft, auch in der Gruppe gelöst werden, sagt Wettstein. «Wenn nur der Täter bestraft wird, kann dies oft Racheaktionen der Täter nach sich ziehen – und die Opfer schweigen dann noch stärker», sagt Wettstein. Fachleute untersuchen deshalb, wer bei Mobbing welche Rolle einnimmt, und sprechen die Probleme dann mit der ganzen Klasse offen an. Sie erarbeiten mit der Klasse Regeln gegen Mobbing, stärken bei allen Schülern die sozialen Fähigkeiten und eine aktive Haltung gegen Mobbing.

Kommt in den Schulen an, was die Hochschulen lehren?

Um als Lehrperson richtig eingreifen zu können, muss ein Bewusstsein dafür bestehen, wann man Hilfe braucht und wo diese zu finden ist. Schulsozialarbeiter, Schulpsychologen, externe Mobbingexperten können helfen – aber insbesondere auch eine Schulleitung, welche die Anliegen der Lehrer sowie auch Mobbing-Anliegen generell ernst nimmt. Und da scheint es, zumindest gemäss unseren Recherchen, schwer zu hapern: Während sämtliche Hochschulen rasch und ausführlich auf die Frage nach der Mobbing-Thematik geantwortet haben, hat nach einer ganzen Arbeitswoche nicht eine einzige der fünf angefragten Schulen in Basel, Bern, Zürich, St. Gallen und Glarus auf unsere Anfrage geantwortet.

Leider nützt die beste Lehrerausbildung nichts, wenn Schulleitungen inaktiv bleiben, Hilfe verweigern oder die Mobbingvorfälle nicht ernst nehmen – und so nichts weniger als das Leben und die zukünftige psychische Gesundheit einiger ihrer Schüler riskieren.

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