Mitten in der Schweiz wurden während 16 Jahren Frauen wie Sklavinnen gehalten – ohne dass jemand etwas bemerkt hat. Nächste Woche steht ein kosovarischer Vater mit vier Söhnen vor dem Regionalgericht Moutier BE. Die Anklage: Er soll für jeden seiner vier Söhne ein Mädchen zwischen 14 und 17 Jahren als «Ehefrau» aus dem Balkan in den Berner Jura gebracht haben. Hier haben Vater und Söhne die Frauen dann über anderthalb Jahrzehnte hinweg misshandelt und zur Hausarbeit gezwungen.
Das erste Opfer wurde 2003 aus Albanien in die Schweiz geholt. Die damals 17-Jährige kannte ihren Ehemann nur von Bildern, arrangiert wurde die Zwangsehe zwischen den Schwiegereltern. Den Eltern der jungen Frau wurde versprochen, dass ihre Tochter in der Schweiz ein besseres Leben haben würde. Ein anderes Mädchen war gerade einmal 14 Jahre alt, lebte in Armut und wurde laut den Ermittlern für den Betrag von 300 Euro von ihren Eltern an ihre Peiniger verkauft.
Frauen wurden isoliert und mit dem Tod bedroht
Das vermeintlich bessere Leben entpuppte sich schnell als Falle. Patriarch Albrim F.* (65) hat seine Söhne laut Anklage genau angewiesen, wie sie mit ihren «Ehefrauen» umzugehen haben: mit brachialer körperlicher und psychischer Gewalt. Demnach wurden die Frauen von den Familienmitgliedern immer wieder verprügelt, erniedrigt, mit dem Tod bedroht, isoliert und vergewaltigt.
«Er schlug sie über 20 Mal mit dem Gürtel», heisst es in der Anklage über einen der Angeklagten. Oder: «Obwohl sie schwanger war, schlug er seine Schwiegertochter, bis sie blutete und drückte mit beiden Händen ihre Kehle zu.» Eines der Opfer habe jeden Abend die Füsse ihres Schwiegervaters und eines Schwagers waschen müssen. Die Vorwürfe füllen 30 Seiten.
Die Frauen durften die Wohnung nur selten alleine verlassen, mit ihren Familien in der Heimat fast keinen Kontakt haben. Und mussten von morgens bis abends im Haushalt arbeiten. Eine der Frauen konnte nach 16 Jahren in der Schweiz keine Landessprache sprechen, war illegal hier.
Opfer befinden sich endlich an einem sicheren Ort
Rechtsanwalt Dominic Nellen (38) vertritt zwei der Frauen vor Gericht und begleitet sie seit drei Jahren. «Die Frauen werden von der Justiz gut abgeschirmt. Sie befinden sich an einem sicheren Ort», sagt er zu Blick. Zu den etwa zehn Kindern, die in den Clan geboren wurden, kann der Anwalt nichts sagen – zu deren Schutz.
Seine Mandantinnen seien schwer traumatisiert: «Sie kamen als Minderjährige, teilweise über die grüne Grenze. Sie mussten die ganze Nacht durch den Wald laufen. Und wurden dann direkt nach der Ankunft von den Ehemännern vergewaltigt. Das hat diese Frauen gebrochen.»
Für Nellen ist klar: Hinter dem unmenschlichen Verhalten steckt das mittelalterliche albanische Gewohnheitsrecht Kanun. Bei Clan-Oberhaupt Albrim F. seien alle Fäden zusammengelaufen: «Das ist ein grosser Familienclan mit dem Schwiegervater als patriarchalem Herrscher. Er war im Zentrum, er gab die Befehle.»
Irgendwann seien die Berner Behörden auf die Familie aufmerksam geworden. «Der Sozialdienst begann, Auflagen zu machen. Etwa, dass die Frauen Sprachkurse absolvieren und sich um eine Arbeit bemühen müssen.» Es sei der erste Schritt in die Freiheit gewesen: «Sie merkten, dass solche Misshandlungen nicht normal sind.» Und: «Bevor die Behörden Auflagen machten, wohnten alle unter einem Dach.»
Angeklagte bestreiten jegliche Schuld
Im Jahr 2019 schafften die Frauen endlich die Flucht – 16 Jahre, nachdem das erste Opfer in die Schweiz geholt worden war. Laut der Anklageschrift war auch eine Opferschutz-Stelle involviert.
Aus der Anklage ist auch ersichtlich: Keiner der Beschuldigten verbrachte mehr als einen Tag hinter Gittern. «Die Männer bestreiten, Widerrechtliches begangen zu haben. Die Frauen seien mit allem einverstanden gewesen», sagt der Opferanwalt.
Den Angeklagten drohen Strafen unter anderem wegen Menschenhandels, Zwangsheirat, Körperverletzung, Nötigung, Vergewaltigung und sexuellen Handlungen mit Kindern. Das geforderte Strafmass wird erst an der Verhandlung bekannt gegeben. Ein Anwalt einer der Söhne gibt Blick an, auf Freispruch plädieren zu wollen. Für Blick waren die anderen Angeklagten und ihre Verteidiger für eine Stellungnahme nicht erreichbar oder wollten nichts sagen. Es gilt die Unschuldsvermutung.
* Name geändert
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