Isabella ist tot. Die Mutter kniet vor ihrem Grab. Sie weint nicht, sie schreit. Immer wieder die gleichen Worte: «Isabella, warum bist du nicht mehr hier? Isabella, warum wurdest du ermordet?» Menschen um sie herum versuchen sie zu stützen. Hände streichen ihr die nassen Haare aus dem Gesicht. Die Mutter schreit, bis sie heiser ist.
Warum bist du nicht mehr hier? Ein Schrei, den man mit viel zu vielen anderen Namen verbinden könnte. Allein in diesem Jahr sind in der Schweiz bisher neun Frauen getötet worden.
Rahel, umgebracht von ihrem Partner vor etwas mehr als einer Woche in Brig VS. Irene, von ihrem Ex-Mann auf offener Strasse in Zürich erschossen. Und sieben weitere.
Wer Isabellas Mörder war, steht noch nicht fest. Drei Männer sind in Untersuchungshaft. Bekannt ist: Alle 20 Tage wird in der Schweiz eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet.
In der Öffentlichkeit werden solche Taten Beziehungsdelikte oder Eifersuchtsdramen genannt. Darüber empört sich nicht nur SP-Nationalrätin Chantal Galladé. Es werde so getan, als seien diese Morde die gesteigerte Form eines Beziehungskonflikts: «Viel zu selten wird es als das benannt, was es ist – ein Mord. «Das muss sich ändern», fordert Galladé.
Die Wahrnehmung ändert sich allmählich
In Lateinamerika, wo die Gewalt an Frauen unfassbare Ausmasse angenommen hat, ist das anders. Dort gibt es sogar ein Wort dafür: Femicidios – Femizide, zu Deutsch Frauentötungen. Also Morde an Frauen, weil sie Frauen sind. Die Bewegung «Ni una menos» – «keine weniger» – kämpft dafür, dass Morde an Frauen durch Partner oder Angehörige, aber auch Vergewaltigungen als das benannt werden, was sie sind: geschlechtsspezifische Gewalt und damit ein gesellschaftliches Problem.
Auch in europäischen Ländern wie Spanien, Italien und Irland ändert sich allmählich die Wahrnehmung. Das ist wichtig. Nicht, weil ein getöteter Mann weniger wert ist. Vielmehr, weil nur dann Massnahmen dagegen ergriffen werden können, wenn man die Einzelschicksale in einen grösseren Zusammenhang stellt.
Marlene Pardeller setzt sich in Deutschland mit ihrer #Keinemehr-Bewegung für einen solchen Sinneswandel ein. Sie sagt: «Gewalt an Frauen ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Dies zu erkennen und zu verurteilen, ist Aufgabe einer Gesellschaft, die das Interesse hat, respektvoll und verantwortungsvoll miteinander umzugehen.»
Auch Maya Graf, Nationalrätin der Grünen im Kanton Baselland und Co-Präsidentin Alliance F, pocht darauf, diese Morde an Frauen im 21. Jahrhundert nicht länger einfach hinzunehmen oder als Beziehungsdelikte abzutun.
«Es sind ganz normale Männer, keine Bestien»
Um diesen Bereich häuslicher Gewalt besser beurteilen zu können, hilft ein Blick in die Statistik: Von 2008 bis 2016 wurden in der Schweiz 108 Frauen von ihren Partnern umgebracht. Von ihrer Partnerin getötet wurden in derselben Zeit 14 Männer.
Brigitte Kämpf arbeitet in Winterthur ZH bei der Beratungsstelle Frauen-Nottelefon. Seit 20 Jahren berät sie Opfer von häuslicher Gewalt. Kämpf weiss, dass diese Frauen oft Angst haben, sich bei der Polizei zu melden. Einerseits, weil sie bloss wollen, dass die Gewalt aufhört, nicht, dass ihr Mann bestraft wird. Andererseits, weil sie sich fürchten, dass die Gewalt nach einer Anzeige noch schlimmer wird. Meist sei das nicht wahr, sagt Kämpf. «Sobald man den Schritt zur Polizei wagt, hat man mehr Schutz, weil dann noch andere Leute hinschauen.»
Hin und wieder sieht sie bei Einvernahmen auch die Täter. «Es sind ganz normale Männer, keine Bestien», sagt Kämpf. Sie hätten auch viele positive Seiten. Die Frauen erlebten in der Beziehung nicht selten gute Momente – und versuchten, sich daran festzuhalten. Das wiederum mache es viel schwerer, sie zu schützen. Hinzu komme, dass sich Frauen oft für die Gewalt schuldig fühlen, die ihnen widerfährt. Sich manchmal sogar einreden, der Partner schlage sie aus Eifersucht. Das müsse doch ein Zeichen sein, dass er sie liebe.
Diese Mechanismen kennt auch Jérôme Endrass, Professor für Rechtspsychologie und Stabschef des Zürcher Amts für Justizvollzug. Oft werde gefragt, warum sich die Frau nicht sofort trenne. Doch sie befinde sich im Dilemma. Sie habe verständlicherweise Angst vor dem sozialen Abstieg und Sorgen um die Kinder. Die gefährlichste Phase ist laut Endrass das Ende der Beziehung: «Wenn sich die Frau trennt, verliert der Mann die Kontrolle.» Der Kontrollverlust könne zum Gewaltausbruch führen. In der Trennungsphase, so Endrass, sei deshalb der Schutz der Frau und ihrer Kinder besonders wichtig.
Wieso werden Männer gewalttätig?
Bleibt die Frage, weshalb Männer überhaupt gewalttätig werden.
Schlüssig beantworten kann das nicht einmal Mike Mottl. Obwohl er im Männerbüro Zürich solche Täter berät. «Damit es so weit geht, dass ein Mann seiner Frau gegenüber Gewalt anwendet, sie sogar tötet, muss sehr viel zusammenkommen.» Die Männer, die er berät, fühlten sich meist in der Partnerschaft überfordert, kleine Kinder seien im Spiel, die Partnerschaft leide, sie kämen mit Veränderungen nicht klar.
Brigitte Kämpf vom Frauen-Nottelefon in Winterthur ergänzt: «Gewalt passiert vor allem in Beziehungen, in denen es viel Ungleichgewicht gibt.» Anders ausgedrückt: Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, Beziehungen auf Augenhöhe könnten Gewalt verhindern.
Ab April tritt auch in der Schweiz die Istanbul-Konvention in Kraft. Die internationale Vereinbarung stellt fest, dass geschlechtsspezifische Gewalt etwas damit zu tun hat, dass den Frauen noch nicht die gleichen Rechte zugestanden werden wie Männern. Dies zu verändern soll dabei helfen, dass die Gewalt an Frauen aufhört. Wut über diese Gewalt steckt auch im Lied «Ni una menos» der Rapperin Rebeca Lane aus Guatemala. Ihre Kampfansage: «Zählt uns gut, wir sind Tausende. Wir kämpfen von Mexiko bis nach Chile und auf der ganzen Welt, weil wir leben wollen! Wir haben keine Angst. Nicht eine weniger von uns soll es geben.» l