Foto: Gregor Kuntscher

Über das Blindsein in Äthiopien – und in der Schweiz
40 Franken geben ihnen das Augenlicht zurück

Mein Grossvater lebte im Aargau. Abdelkader (16) ist Äthiopier. Beide verloren einen Teil ihres Augenlichts. Für den Jugendlichen gibt es Hoffnung.
Publiziert: 12.01.2020 um 20:00 Uhr
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Aktualisiert: 12.01.2020 um 21:01 Uhr
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Die Autorin (Mitte) mit ihren Grosseltern und ihren Geschwistern am Geburtstag der kleinen Schwester im Jahr 1989. Der Grossvater starb 2007. Er verlor in den letzten Jahren seines Lebens einen grossen Teil seines Augenlichts.
Foto: Aline Wüst
Aline Wüst

Kurz nachdem meine Grossmutter gestorben war, verlor mein Grossvater einen grossen Teil seines Augenlichts. Er ersetzte die Bücher durch Hörbücher und hatte sie bald satt. «Immer nur hören», sagte er. Die Romane, die ich ihm empfahl, mochte er nicht. Es lag wohl nicht am Hören, eher an den Geschichten, die ihm diese Stimmen erzählten. Er wollte heitere Geschichten, nichts Trauriges. Schweres höre er doch schon im Radio. Traurig war er selber oft, seit meine Grossmutter nicht mehr da war.

Zwischen uns lagen 60 Jahre. Er kam aus einer anderen Schweiz. Einmal erzählte er mir, wie das damals war, im Zweiten Weltkrieg, als das Essen rationiert und der Gemüsegarten gross war.

Wenn ich in Länder ausserhalb Europas reiste, sorgte er sich. Vielleicht, weil er sie nur aus dem Radio kannte.

Das erste Mal in Äthiopien war ich vor vier Jahren. Auf dem Land sass ich bei einer Grossmutter in einem Lehmhaus. Sie hielt meine Hand, während sie mit mir sprach, tastete nach dem Essen, wenn ihr die Enkelin den Teller auf die Knie legte. Von der grossen Hungersnot erzählte sie mir so: «Wir hatten kein Essen mehr, viele starben hier in diesem Dorf. Dann kam die Regierung und brachte uns Essen.» Das wars. Denn es gab ein Ereignis, das sie mehr prägte und von dem sie sprechen wollte – es war ihre ganz persönliche Geschichte: Jemand stahl ihr die Kuh, die Geiss und alles Geld. Sie habe so viel geweint über diesen Verlust, dass sie erblindet sei.

Die gestohlene Geiss

Ende letzten Jahres bin ich wieder in das ostafrikanische Land gereist. Diesmal mit «Licht für die Welt». Einer Organisation, die sich für Menschen mit Behinderung einsetzt. Ganz besonders auch für blinde Menschen. Zu erblinden ist ein Schicksalsschlag. Überall auf der Welt. In Entwicklungsländern aber erblinden Menschen, obwohl es nicht sein müsste. Sie erblinden, weil sie arm sind.

Um das eigene Schicksal zu erfassen, machen viele Menschen in Äthiopien ein bestimmtes Ereignis für ihre Erblindung verantwortlich, sagt mir der äthiopische Augenarzt Teshagar Wondale. Der Verlust eines lieben Menschen – oder eben die gestohlene Geiss und die Tränen darüber.

Die wunderlichste Aussage, die ich höre, ist aber nicht diese. Es ist die von Yetnebersh Nigussie in Addis Abeba, der Hauptstadt Äthiopiens: «Blindheit war die Lotterie, die ich im Alter von fünf Jahren gewann.»

Doch zuerst nach Gondar, einer Stadt im Norden des Landes. Und von da nochmals eine Stunde weiter durch eine oft nebelverhangene Landschaft in ein Distrikthauptstädtchen.

In den letzten Wochen wurde es hier von der Kanzel verkündet und von Autos mit darauf montierten Lautsprechern bekannt gemacht: kostenlose Augenoperationen!

Wandern für Operation

Mein Grossvater ging zum Augenarzt, und der verwies ihn weiter an eine Augenklinik. Die Menschen, die nun hier vor der Klinik in Äthiopien sitzen und auf die Voruntersuchung warten, sind gewandert, manche tagelang – auf gut Glück. Denn behandelt werden kann in dieser temporären Augenklinik nur, wer entweder Trachom hat oder grauen Star.

Trachom ist eine Augenkrankheit, die da vorkommt, wo die hygienischen Bedingungen schlecht sind. Schlecht sind sie oft da, wo nicht genügend Wasser vorhanden ist. Trachom hätte mein Grossvater nie bekommen können. Das gibt es nicht in der Schweiz. Die Krankheit ist unglaublich schmerzhaft, weil die Wimpern irgendwann nach innen wachsen. 142 Millionen Menschen sind weltweit von Trachom davon bedroht.

Den grauen Star hingegen bekommen Menschen auf der ganzen Welt. Ob man daran erkrankt, hat nichts mit Armut zu tun. Ob man daran erblindet, schon. Der graue Star ist einfach zu behandeln: Trübe Linse raus, Kunstlinse rein, und das Augenlicht ist wieder da. In der Schweiz ist es einer der häufigsten operativen Eingriffe. Rund 100'000-mal pro Jahr findet er statt. 4000 Franken kostet er, gedeckt von der Grundversicherung. In Äthiopien machen 40 Franken einen Menschen wieder sehend – ein Betrag, der für die ländliche Bevölkerung fast immer ausser Reichweite liegt.

Mein Grossvater hatte den grünen Star. Eine Krankheit, die viel häufiger in afrikanischen Ländern vorkommt als in der Schweiz. In den Ländern aus dem Radio. Ob er das gewusst hat? Doch Wahrscheinlichkeit bringt dem einzelnen Betroffenen nichts.

Die Menschen, die an diesem Tag zur Klinik kommen und die gleiche Krankheit haben, die mein Grossvater hatte, werden blind bleiben. Nur wer grauen Star oder Trachom hat, bekommt über dem Auge ein rotes Kreuz.

«Ich fühle mich unnütz»

Eine Mutter von sechs Kindern mit einem Kreuz über dem Auge darf damit ins Innere der Klinik. Früher, so erzählt sie, sei sie zu Hause gewesen, habe gekocht, für die Kinder geschaut, auf dem Feld gearbeitet mit ihrem Mann. Seit drei Jahren sitze sie blind zu Hause, könne nichts mehr tun. «Ich fühle mich unnütz», sagt sie.

Mein Grossvater verliess sein Haus nur noch selten. Weil es ihm unangenehm war, wenn er die Leute aus dem Dorf nicht erkennen konnte, wenn sie ihn mit Namen grüssten.

Drinnen in einem Raum des Distriktspitals operiert der Arzt Teshagar Wondale im Akkord – alte Linse raus, Kunstlinse rein. Und schon rollt er rüber zum zweiten Operationstisch, wo die nächste Patientin liegt.

Schon in der Schule wusste Wondale, was er später werden wollte. «Als Augenarzt verschreibe ich keine Medikamente und muss auf den Effekt warten», sagt er. «Ich operiere, und am nächsten Tag sehen die Menschen wieder. Der Effekt tritt sofort ein.» Das gefällt ihm. Was ihn beim letzten Einsatz dieser Art berührte: ein blinder Vater, der nach der Operation zum ersten Mal in seinem Leben seinen Sohn sehen konnte.

Abdelkader, der Hoffnungsträger

Unter den vielen alten Menschen, die am zweiten Tag warten, sitzt auch ein Bub, der 16-jährige Abdelkader. Er ist gut in der Schule, sieht aber die Tafel schlecht. Denn beim Holzhacken flog ihm ein Splitter ins Auge. Daraus wurde ein grauer Star und Abdelkader damit auf einem Auge blind.

Abdelkader ist eigentlich nicht Patient, sondern Hoffnungsträger. Er ist das Jüngste von fünf Geschwistern und der Einzige, der zur Schule gehen kann. «Abdi» möchte Arzt werden, arbeitet neben der Schule bei seinem Cousin im Laden. Er hat ein rotes Kreuz über dem Auge. Vor der Operation hat er Freude und Angst zugleich.

Mein Grossvater hatte auch ein bisschen Angst. Aber sie versprachen ihm, dass er nachher wieder perfekt sehen könne.

Abdelkader ist an der Reihe. Er hat schon das blaue Gwändli an. Ist nervös. Wondale, der Arzt, schaut sein Auge vor der Operation nochmals schnell an, weil Abdelkader noch minderjährig ist. Dann sagt er: Das könne er hier nicht operieren. Dafür müsse der Teenager ins Unispital nach Gondar kommen. Abdelkader kann sich das nicht leisten. Er zieht das Gwändli aus, will aus dem Gebäude rennen – sein Mut ist weg. Ein Pfleger kann ihn beim Ausgang aufhalten. Sie sagen ihm, er könne nach Gondar kommen, werde dort kostenlos operiert. «Licht für die Welt» hat ein Spezialbudget dafür. Abdelkader nickt nur und verschwindet.

Nach der Operation sah mein Grossvater fast nichts mehr. Die Ärzte sagten, das würde schon noch. Es wurde nicht.

Abdelkader reist drei Wochen später nach Gondar ins Universitätsspital. Es wird nichts. Der Arzt kann nicht operieren, weil Abdelkader eine Erkältung hat.

Im kleinen Spital auf dem Land hilft das Pflegepersonal den soeben Operierten aufzustehen, sie wanken barfuss aus dem Raum, werden von Töchtern und Söhnen in Empfang genommen. Die führen sie raus aus dem Klinikgelände. Unsicher, Schritt für Schritt gehen sie in der Dunkelheit ­– auch wenn die Sonne scheint. Unter ihnen die sechsfache Mutter. Aber auch eine Grossmutter von 20 Enkeln.

Wieder sehen nach zwei Jahren

Am nächsten Morgen warten all die tags zuvor Operierten vor der Klinik. Der Arzt nimmt der 20-fachen Grossmutter, die seit zwei Jahren nicht mehr sieht, die Pflaster von den Augen, geht zwei Schritte zurück, fragt sie: «Wie viele Finger sind das?» – «Zwei.» Er nickt. «Und nun?» – «Drei!» Scheues Lächeln. Kurz darauf steht sie auf und geht davon. Ihr Sohn springt ebenfalls auf, kommt ihr fast gar nicht mehr hinterher. Nachher wird sie sagen: «Ich bin glücklich, ich möchte rennen. Ich kann allein gehen! Ich fühle mich, als ob ich einfach immer weitergehen könnte.» Dann mischt sich Sorge in die Freude: «Wie soll ich die Heimreise in mein Dorf bloss bezahlen?»

Wäre mein Grossvater glücklicher gewesen, wenn er wieder gesehen hätte nach der Operation? Was Glück für einen einzelnen Menschen bedeutet, lässt sich von aussen nur schwer beurteilen. Was ein Unglück ist, manchmal auch.

Würde Yetnebersh Nigussie (38) sehen, wäre sie wohl im Alter von elf Jahren verheiratet worden. Doch blind war sie nicht vermittelbar. Die Leute im Dorf sagten deswegen, es wäre besser, sie wäre taub oder tot statt blind. Nigussie kam stattdessen in eine katholische Sonderschule. Die Nonnen sagten ihr nicht, dass es besser wäre, tot zu sein. Sie sagten ihr, sie sei wunderschön, vermittelten ihr Selbstbewusstsein, gaben ihr Verantwortung. So wurde aus dem Bauernmädchen eine Anwältin, Kämpferin für Menschenrechte und Botschafterin der Hilfsorganisation «Licht für die Welt». Das meint Nigussie, wenn sie sagt, ihre Blindheit sei ein Lotteriegewinn gewesen.

Nigussie kämpft heute dafür, dass blinde Menschen medizinische Hilfe bekommen, präventive Massnahmen getroffen werden, aber vor allem auch, dass blinde Menschen ihr Potenzial nutzen können. Sie sagt: «Wenn wir über Menschen mit Behinderung reden, geht es meistens darum, was sie nicht können. Ich rate dazu, darauf zu schauen, was sie können: Wir Menschen mit Behinderung haben eine Behinderung, aber auch 99 Fähigkeiten.»

Die heitere Geschichte

Das, was Yetnebersh Nigussie erzählt, hätte meinem Grossvater bestimmt gefallen, hätte er ihrer Stimme lauschen können. Denn es ist eine heitere Geschichte. Also eine, die er gemocht hätte. Erzählen kann ich sie ihm nicht. Mein Grossvater starb 2007.

Nigussies Geschichte geht weiter. Sie sagt, dass sie zwar oft über ihre Blindheit spreche, für sie selber das allerdings kein grosses Thema mehr sei. Und so sitzt sie aktuell auch in der nationalen Versöhnungskommission des Landes. Nicht als Vertreterin der Blinden. Sondern schlicht als kluge Frau, welche die Zukunft ihres Landes mitgestaltet.

Abdelkader, der Bub, der seinen ganzen Mut zusammennahm, um allein zur Untersuchung zu kommen, auf eine Operation zu hoffen, und nun zweimal enttäuscht wurde, gibt nicht auf. Abdelkader hat einen neuen Termin im Universitätsspital von Gondar. Und vielleicht, wenn er erwachsen ist, wird auch er eine heitere Geschichte erzählen können. Jene, dass es sich lohnt, mutig zu sein und Schwierigkeiten zu überwinden. Und seine ganz persönliche Geschichte wird ihn zum Hoffnungsträger machen.

Diese Reise wurde ermöglicht durch die Hilfsorganisation «Licht für die Welt».

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