Star-Profiler Thomas Müller über Mehrfachmörder wie Thomas N.
«Dahinter steckt eine bohrende Fantasie»

Er liest das Verhalten von Kriminellen, besichtigt Tatorte und besucht Mörder im Gefängnis. Der Star-Profiler Thomas Müller über Rupperswil und andere Fälle.
Publiziert: 18.03.2018 um 18:17 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 21:35 Uhr
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Er weilte diese Woche als Gast der International Business School (ZfU) in der Schweiz: Thomas Müller verfolgte den Fall Rupperswil in den Medien.
Foto: Siggi Bucher
Interview: Tobias Marti

SonntagsBlick: Würden Sie als Profiler gerne mit Thomas N. sprechen?
Thomas Müller:
Es ist ein aussergewöhnlicher Fall, der die eine oder andere hochkomplexe Fragestellung aufwirft.

Welche?
Die Abfolge der Ereignisse. Was hat er mit den vier Opfern zu Lebzeiten gemacht und welches Opfer hat er in welcher Reihenfolge getötet?

Das will er für sich behalten.
Das nennen wir das Weiterziehen einer Fantasie – sollte uns aber nicht stören, wir können in der Regel den Tatort «lesen».

Was heisst das?
Ich hatte einmal einen Fall, da hatte der Täter im Gericht die grösste Freude daran, die Eltern des Opfers zu beobachten – im Wissen, dass sie nicht wissen, was eigentlich passiert ist. Das ist nichts anderes als die Kopie der einzelnen Tat. Es geht um Machtausübung, Degradierung, Erniedrigung, Kontrolle, bis über die eigentliche Tat hinaus.

Was tun Sie in Ihrem Beruf?
Die Kriminalpsychologie beurteilt nicht, was jemand sagt, sondern was jemand tut. Weil jeder Mensch das Recht hat zu lügen. Aber es gibt einen Moment, wo er nicht lügt. Nämlich dann, wenn er eine Entscheidung trifft. Und darum versuchen wir aus dem Tatort zu lesen, welche Entscheidungen jemand getroffen hat.

Also schauen Sie nur die Taten an?
Richtig. Als Kriminalpsychologe habe ich nie Angaben von und über einen Täter.

Sie haben einige Tatorte gesehen. Was macht das mit Ihnen?
Das FBI würde niemanden aus der Ausbildung entlassen, ohne bestimmte Strategien zur Verfügung zu stellen. Hochkomplexe Fälle analysieren wir in den frühen Morgenstunden. Im Winter stehe ich um vier, im Sommer um drei Uhr auf. Um sieben bin ich mit meiner Kernaufgabe fertig. Dann kommen die leichteren Dinge. Ich brauche lange nach der Bearbeitung der Fälle, bis ich ins Bett und damit wieder in mein eigenes Unterbewusstsein hineingehe. Und zentral ist auch die professionelle Distanz. Sonst fangen Sie an, Fehler zu machen.

Aber Sie sind ja kein Roboter.
Nein, bin ich nicht. Aber wenn Sie mich fragen, was diese Fälle mit mir gemacht haben, kann ich etwas sagen: Es hat mich sehr bescheiden gemacht. Wenn Sie mit jemandem sprechen, der 27 Jahre in einem Kellerloch eingesperrt wurde, wundern sie sich manchmal, über welche Kleinigkeiten sich manche Leute aufregen können.

Umgekehrt muss es ja wahnsinnig sein, dem gegenüberzusitzen, der diese Leute im Loch eingesperrt hat.
Das ist der Kardinalfehler vieler Menschen. Die beste Tarnung von Menschen, die aussergewöhnliche Verbrechen begehen, ist die Arroganz und Überheblichkeit jener Leute, die zu wissen glauben, wie jemand ausschaut. Menschen, die hochkomplexe Verbrechen begehen, haben keine gelben Augen. Sie schauen aus – mit Verlaub – wie Sie oder ich.

Schlafen Sie nachts gut?
Bis jetzt schon.

Können Sie mit den Begriffen «gut» und «böse» etwas anfangen?
Sie nützen uns nichts. Wir verurteilen nicht, wir beurteilen. Vergeltung, Rache und manch seltsam klingende Titulierungen wie Monster, Säuremörder und so weiter, das hilft uns nicht, die Dynamik zu verstehen. Wir brauchen objektive Kriterien, die man messen kann, um dann Schlussfolgerungen zu ziehen.

Warum tötet jemand?
Es gibt die persönlichen Tötungsdelikte, wo eine darunterliegende Aggression vorliegt. Die kann ein paar Sekunden, Minuten oder auch Jahre alt sein. Es gibt Tötungsdelikte, wo ein materieller Vorteil erreicht wird. Dann die sexuellen Tötungsdelikte, wo die Machtkomponente im Vordergrund steht, und es gibt gruppendynamische Delikte, wo es um eine Ideologie geht.

Thomas Müller: «Unsere Lehrmeister sitzen in den Gefängnissen.»
Foto: Siggi Bucher

Also gibt es nicht «den» Mörder?
Jeder Fall ist einzigartig, denn er besteht aus vielen Einzelentscheidungen. Und in der Kriminalpsychologie sind wir angehalten, diese zu finden und mit vielen anderen zu vergleichen. Darum sitzen unsere «Lehrmeister» in den Gefängnissen, die uns erklären, was ein bestimmtes Verhalten bedeutet.

Warum ist es da, dieses destruktive Verhalten?
Ich habe Dutzende Täter interviewt, die sagen: Was dahintersteckt, ist eine unglaublich bohrende Fantasie. Täter, die ähnliche Taten wie in Rupperswil begehen, haben das Hunderte Male in ihrer Fantasie durchgespielt.

Wann ist jemand gemeingefährlich?
Das Motiv, die Planung, die sexuelle Fantasieumsetzung, die Entpersonifizierung, wenn drei dieser vier Kriterien am Tatort vorkommen, müssen Sie von einer hohen Wiederholungsgefahr ausgehen.

Wenn mein Kind zum Mörder wird, habe ich dann als Vater oder Mutter etwas falsch gemacht?
Irgendeine Korrelation ist in der Regel schon vorhanden – nicht unbedingt zum Mord, aber in der Entwicklung dahin. Inwieweit eine Verbindung hergestellt werden kann, ist eine Frage der seriösen Datenaufarbeitung. Ich habe noch keinen Täter getroffen, der in der Früh aufwacht, ein Tötungsdelikt begeht und sich am Abend sagt: Ich mach das nie mehr wieder. Das ist ein sehr schleichender Prozess.

Könnten wegen der Berichterstattung potenzielle Täter angestachelt werden?
Wenn über einen Fall ausführlich berichtet wird, erlangen die Täter eine negative Berühmtheit. Leute mit schwacher Persönlichkeit könnten dann ähnliche Taten begehen, die Trittbrettfahrer. Bei Rupperswil ist das unwahrscheinlich. Der Fall ist so einzigartig, dass es schwierig wäre, ähnlich gelagerte Fantasien zu entwickeln.

Müssen Sie überhaupt noch selber an einen Tatort gehen?
Die Tatortaufnahme ist so gut, dass es eigentlich unerheblich ist, ob man selber dort ist oder im Nachhinein die Aufnahmen bekommt.

Thomas Müller

Der Tiroler Thomas Müller (53) ist der Star der europäischen Kriminalpsychologen. Er war Streifenpolizist in Innsbruck, machte ein Psychologiestudium und eine FBI-Ausbildung. Als Berater ist er international gefragt. Dutzende von Mördern besuchte er im Gefängnis, etwa den «Kannibalen von Rotenburg». In der Schweiz half er beim Aufklären des Falls «Berner Mitternachts-Mörder» um Mischa Ebner. Er lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Wien.

Der Tiroler Thomas Müller (53) ist der Star der europäischen Kriminalpsychologen. Er war Streifenpolizist in Innsbruck, machte ein Psychologiestudium und eine FBI-Ausbildung. Als Berater ist er international gefragt. Dutzende von Mördern besuchte er im Gefängnis, etwa den «Kannibalen von Rotenburg». In der Schweiz half er beim Aufklären des Falls «Berner Mitternachts-Mörder» um Mischa Ebner. Er lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Wien.

Also ein reiner Bürojob mit Ausflügen in den Knast?
Nicht ganz.

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