Lars (7) ist seit der Geburt geistig beeinträchtigt. Er leidet an frühkindlichem Autismus, Entwicklungsstörungen und Zerebralparese, hat Probleme in der Motorik und im Umgang mit anderen Kindern.
Im Alltag ist er auf Unterstützung angewiesen und besucht seit dem Kindergarten eine heilpädagogische Schule. Und genau diese könnte ihm helfen, in der Zukunft ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Wäre da nicht der Kanton Solothurn.
«War vor wenigen Monaten noch undenkbar»
Das Angebot der Schule umfasst nicht nur den Unterricht, sondern auch die ausserschulische Betreuung. Während zwei Nachmittagen pro Woche lernen die Kinder hier, wie man sich richtig wäscht und Zvieri isst, üben die Feinmotorik mit Bastelarbeiten und Malen oder erlernen beim betreuten Fussballspielen den Umgang mit anderen Kindern.
Das Angebot zeigt Wirkung: Zu Hause demonstriert Lars stolz, wie er seinen Namen nachzeichnen und kleine Spielzeugteile zusammensetzen kann. «Das wäre vor wenigen Monaten noch undenkbar gewesen», schwärmt Vater René Felder (55). Früher habe der Junge nur mit den Betreuerinnen gespielt. «Doch jetzt geht er mit anderen Kindern Fussball spielen.»
Angebot wird abgeschafft
Die Kinder werden in der Betreuung von speziell ausgebildeten Heil- und Sozialpädagogen begleitet. «Auch wir binden Lars wo immer möglich in kleine Arbeiten ein, aber ich kann es ihm nicht so gut beibringen wie das Fachpersonal», gesteht Felder ein. Er schätzt das Angebot sehr, weil er dadurch auch mal Zeit für seine Stieftochter Ramona (16) hat und Lars selbst viel dazulernt. «Es ist sehr schön, zu sehen, wie er aufblüht.»
Doch genau dieses Angebot will der Kanton Solothurn nun streichen. Zu Beginn der Herbstferien flatterte bei Eltern, Schule und Angestellten ein Brief ins Haus: Die ausserschulische Betreuung von Lars und 122 weiteren Kindern mit Beeinträchtigung wird abgeschafft, der Kanton muss sparen. Die Eltern müssen sich selbst um die behindertengerechte Betreuung kümmern.
Anrecht auf Betreuung besteht
«Bei diesem Brief steigt mein Wutpotenzial», sagt die Erziehungswissenschaftlerin Eva-Maria Fischli (57). Sie setzt sich seit rund 40 Jahren für Menschen mit Beeinträchtigung ein, ist Co-Präsident der Elternvertretung «Insieme» und half einst selbst bei der Weiterentwicklung der heilpädagogischen Schulen mit.
Die Argumentation des Kantons kann sie nicht nachvollziehen. Dieser sagt, dass eine rechtliche Grundlage für die Zahlungen fehle. Dem widerspricht Fischli: «Im Volksschulgesetz steht, dass ein Anrecht auf die ausserschulische Betreuung für Kinder mit Beeinträchtigung besteht.» Ob dafür die Gemeinden oder der Kanton aufkommen soll, sei im Gesetz nicht klar geregelt. Klar aber ist: Die Kinder haben ein Recht darauf. «Der Kanton kann sich da nicht einfach aus der Verantwortung nehmen.»
Angebot sei «ungerecht»
Das tue er auch nicht, sagt der Amtsleiter des Volksschuldepartements Solothurn, Andreas Walter. Über Mittag würden die Kinder weiterhin betreut werden. Bei den Angeboten am Nachmittag, die einen Grossteil ausmachen, sehe es anders aus. Der Kanton spricht hier von «familienergänzender Betreuung». Dies seien «zusätzliche, freiwillige und kostenlose Angebote – etwa nach dem Unterrichtsschluss oder an freien Nachmittagen. Im Kanton sind dafür die Gemeinden zuständig.» Laut Kanton fehle für das aktuelle Angebot die Rechtsgrundlage.
Weiter argumentiert der Kanton mit Ungerechtigkeit. Nicht alle Kinder könnten vom Angebot profitieren. «Nicht alle Kinder an einer heilpädagogischen Schule brauchen diese Betreuung», so Fischli. Auch für Kinder in Regelschulen sei es schöner, wenn sie von den Eltern oder den Grosseltern betreut werden können. Ein Kind mit einer Beeinträchtigung wie Lars sei allerdings auf die professionelle Betreuung angewiesen.
«Derzeitiges Angebot ist hocheffizient»
Für Fischli ist klar: «Bei den schwächsten unserer Gesellschaft darf man nicht sparen, auch wenn sie nur einen Bruchteil aller Kinder ausmachen.» Sie fordert, dass der Kanton mit den Verbänden und Eltern zusammensitzt und an einer Finanzierung arbeitet. Auf Blick-Anfrage schreibt das Departement, es werde eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, die die finanziellen und rechtlichen Möglichkeiten untersuche.
Die Sparmassnahme ist laut der Erziehungsexpertin sehr kurzfristig gedacht: «Dieses Angebot ist hocheffizient. Jeder Franken, der in ein Kind mit Beeinträchtigung investiert wird, vervielfacht sich bis ins Erwachsenenalter», weiss Fischli. Rund 2,4 Millionen kostet die Betreuung der 122 Kinder jährlich. Zum Vergleich: Der Kanton Solothurn schrieb 2022 einen Überschuss von 148 Millionen Franken.
«Es tut mir im Herzen weh»
Für Familie Felder geht es um mehr als nur Geld: «Wir bezahlen auch gerne etwas an die Betreuung», so der Vater. Das Problem: Eine Kita kann keine derartige Betreuung anbieten. Es braucht speziell ausgebildetes Personal und Infrastruktur. Beides ist aktuell an der Sonderschule vorhanden, kann aber nicht an jeder Kita aufgebaut werden. Ist das kantonale Angebot einmal eingestampft, kann nicht so schnell eine vergleichbare Betreuung geschaffen werden.
René Felder will, dass sein Sohn Lars irgendwann eine Anlehre machen und ein selbständiges Leben führen kann. Ohne die Fähigkeiten, die Lars in der ausserschulischen Betreuung lernt, stünden die Chancen dafür allerdings schlecht. «Lars wird die Chance auf eine Zukunft genommen! Das tut mir im Herzen weh.»