An Stöcken läuft Kurt P.* (86) um acht Uhr früh ins Bezirksgericht Brugg AG. Der pensionierte Mechaniker ist wegen mehrfacher sexueller Handlungen mit einem Kind angeklagt. Der Witwer soll von 1997 bis 2000 seine Enkelin (von 4 bis 7) missbraucht haben.
Als der Gerichtspräsident den Prozess eröffnet, fällt ihm P. ins Wort: «Können Sie etwas lauter reden? Ich habe ein Hörsystem.» Später erzählt er noch von einem Sturz, den er hatte - und von seinem Blasenkrebs.
Ein Übergriff an Weihnachten
Dann kommt man zur Anklage. Laut dieser soll P. seiner Enkelin einmal gesagt haben, dass er sie eincremen müsse, und begab sich mit ihr ins Badezimmer. Dort stellte er sich hinter sie, zog ihre Hosen runter, legte ihr einen Arm um den Bauch, rieb mit einem Finger an ihrer nackten Vagina und drang mit dem Finger ein. Dies soll er «wissentlich und willentlich und zur Befriedigung seiner geschlechtlichen Bedürfnisse» getan haben.
Der zweite Vorfall geschah an einem Weihnachtsfest. Da soll P. seiner Enkelin ins Kinderzimmer gefolgt sein. Dann soll er die gleichen Handlungen wie bei sich daheim vollzogen haben.
Enkelin hatte erst 20 Jahre später Kraft zur Anzeige
«Ich habe die Anklage verstanden», sagt P. vor Gericht. Es folgt Selbstmitleid: Seit der Anzeige - seine Enkelin fand erst 20 Jahre später die Kraft dazu - vergehe kein Abend, ohne dass er sich nicht nach dem «Warum» frage. Immerhin: «Es tut mir unendlich leid.» Seine Enkelin bedeute ihm viel. Er möchte wieder Kontakt. Sie nicht.
Gab er vierjähriger Enkelin eine Mitschuld?
Unfassbar: P. hatte einmal ausgesagt, dass sie «frühreif» gewesen sei und es mit der Salbe «nicht ungern» gehabt habe. «Geben Sie ihr etwa eine Mitschuld?», fragt der Gerichtspräsident. P. schweigt.
Der Staatsanwalt sieht bei P. ein «schweres Verschulden». Das Opfer sei heute noch in psychologischer Behandlung. Er fordert zwei Jahre bedingt, eine Busse von 2000 Franken und 20'000 Franken Genugtuung - auf diese Forderungen hatte er sich vor dem Prozess mit der Anwältin von P. geeinigt. Beim letzten Wort hofft P., dass das Gericht «den Faktor Mensch» einbringe - nicht nur «die Tat».
Kurt P. bleibt ein freier Mann
Das Gericht genehmigt das vorgeschlagene Urteil der Parteien «zähneknirschend». Dafür wird die Busse auf 6000 Franken erhöht. «Sie haben Ihrem eigenen Grosskind die Unschuld geraubt», so der Gerichtspräsident. Und: Das mit dem Finger sei nur die halbe Wahrheit. Er solle akzeptieren, dass sie keinen Kontakt mehr wolle.
Nach dem Urteil geht Kurt P. in eine Tiefgarage zu seinem Auto, legt die Stöcke auf den Rücksitz - und fährt davon. Als freier Mann.
* Name geändert