Eine willkürliche Justiz, unfähige Schweizer Botschaftsangestellte und missratene Fluchtversuche: Zwischen 2008 und 2010 erlebte der Aargauer Max Göldi (63) in libyscher Gefangenschaft die schrecklichste Zeit seines Lebens. BLICK traf den stillen Mann, der in seinem Buch über seine Geiselhaft aber klare Worte verwendet, in Gockhausen ZH zum Interview. Auch acht Jahre nach seiner Befreiung treiben ihm die Erinnerungen Tränen in die Augen.
BLICK: Herr Göldi, wie hat die Geiselnahme Ihr Leben verändert?
Max Göldi: Meine Welt ist geschrumpft. Vorher bin ich viel gereist – geschäftlich und privat. Es gab kein Gebiet, das ich nicht besucht hätte. Heute würde ich Länder, in denen das Rechtssystem nicht so ausgeprägt ist wie in der Schweiz, nicht mehr bereisen.
Konkret?
Ich habe früher viele Jahre in Ländern wie Irak, Saudi-Arabien, Algerien und Libyen gelebt. Heute meide ich arabische Länder.
Was war das Schlimmste während der 23 Monate dauernden Gefangenschaft?
Einerseits die Ungewissheit und die Hilflosigkeit, andererseits die Hinrichtungen, die ich im Gefängnis mitanhören musste.
Haben Sie daran gezweifelt, dass Sie Libyen jemals lebend wieder verlassen werden?
Mit dem Tod habe ich nie gerechnet, aber es dauerte länger, als ich erwartet hatte.
Welches war der emotionalste Moment in diesen 23 Monaten?
Einer der bewegendsten Momente war sicher, als ich meiner Mutter aus dem Gefängnis zum 80. Geburtstag gratulierte. Hannibal Gaddafi hatte mich an jenem Tag besucht. Er wusste, dass es der Geburtstag meiner Mutter war, und er fragte mich, ob ich ihr telefonieren wolle. Ich war sehr aufgewühlt.
Sie hatten eine sehr enge Beziehung zu Ihrer inzwischen verstorbenen Mutter. Wie hat Sie unter der Geiselnahme ihres Sohnes gelitten?
So etwas ist für jede Mutter schlimm. Meine Mutter war da nicht anders.
Ihre Frau konnte schon bald nach der Gefangenschaft in die Schweiz zurückreisen. Wie funktionierte die Beziehung in der schweren Zeit? War die Ehe wegen der Belastung sogar gefährdet?
Es war eine Fernbeziehung. Für meine Frau war stets klar, dass sie zu mir stehen und mir helfen würde.
Wie haben Sie die Medien erlebt?
Es war eine stetige Gratwanderung: Wie stark wollte man sie involvieren? Informationen konnten ja positive oder negative Auswirkungen haben, die wir als Opfer nicht beeinflussen konnten.
Wie sind Sie und das EDA mit Informationen gegen aussen umgegangen?
Ich habe meine Angehörigen in der Schweiz, mit denen ich ab und zu von der Botschaft aus telefonieren konnte, immer nur zurückhaltend informiert. So konnte man verhindern, dass sie unbekümmert über die brenzlige Lage erzählten, falls sie von Medien kontaktiert werden sollten. Die Medien selber wurden nicht proaktiv informiert.
Und doch riefen Sie von sich aus hinter dem Rücken des Botschafters einen Journalisten an, der einen Fax geschickt hatte. Hatten Sie das Bedürfnis zu reden?
Mit der Zeit hat sich der Frust aufgestaut. Ich wollte die Öffentlichkeit über die Tatsachen informieren.
Was wollten Sie loswerden?
Mich störten die zirkulierenden Gerüchte – heute würde man wohl sagen Fake News –, die behaupteten, dass ich über kein Visum verfügt und mich illegal im Land aufgehalten hätte.
Wie konkret waren die Fluchtpläne?
Ich persönlich war über die Pläne nicht detailliert informiert. Der Botschafter teilte mir nur mit, dass solche Pläne in Ausarbeitung seien und er mich im Kofferraum seines Autos nach Tunesien schmuggeln sollte. Später gab es Pläne, mich auf dem Landweg über Algerien oder Mali oder sogar mit einem Jetski über das Meer aus dem Land zu bringen. Diese Pläne wurden mehrmals im letzten Moment verworfen. Die Gründe kenne ich nicht.
Wie beurteilen Sie die damalige Arbeit der Schweizer Behörden?
Ich kann sie nicht wirklich beurteilen, weil ich keine Details kenne.
Sie schreiben im Buch vom «egoistischen Genfer Konsul» und «kein Schwein kümmert sich um uns». Die Arbeit der Behörden muss Sie doch schwer enttäuscht haben?
Von meiner Warte aus betrachtet haben die Schweizer Behörden immer etwas langsam und zu spät reagiert. Es dauerte ein halbes Jahr, bis sie Kontakt zum Gaddafi-Clan aufgenommen haben. Pascal Couchepin hätte als damaliger Bundespräsident umgehend mit Machthaber Gaddafi reden sollen. Auch hat die Schweiz viel zu lange geglaubt, dass sie den Fall ohne Hilfe anderer Staaten lösen könnte.
Der Aargauer ABB-Mitarbeiter Max Göldi (63) war eine der Schweizer Geiseln, die während der Libyen-Affäre in Tripolis fast zwei Jahre lang festgehalten wurden. Zehn Jahre nach Beginn der Tortur veröffentlicht er das Buch «Gaddafis Rache – Aus dem Tagebuch einer Geisel». Es ist das Tagebuch über seine ungewisse Zeit, in der er nie wusste, was morgen sein würde. Schonungslos beschreibt er das bizarre Staatsgebilde Libyens und benennt die Schwachstellen in der Schweizer Diplomatie.
Der pensionierte Göldi lebt mit seiner japanischen Frau Yasuko heute «in Asien». Wo genau, will er nicht verraten, da er nach der Buchveröffentlichung möglichst bald wieder in die Anonymität zurückkehren möchte.
«Gaddafis Rache – Aus dem Tagebuch einer Geisel», Wörterseh Verlag, 624 Seiten, ISBN 978-3-03763-103-4, Fr. 39.90
Der Aargauer ABB-Mitarbeiter Max Göldi (63) war eine der Schweizer Geiseln, die während der Libyen-Affäre in Tripolis fast zwei Jahre lang festgehalten wurden. Zehn Jahre nach Beginn der Tortur veröffentlicht er das Buch «Gaddafis Rache – Aus dem Tagebuch einer Geisel». Es ist das Tagebuch über seine ungewisse Zeit, in der er nie wusste, was morgen sein würde. Schonungslos beschreibt er das bizarre Staatsgebilde Libyens und benennt die Schwachstellen in der Schweizer Diplomatie.
Der pensionierte Göldi lebt mit seiner japanischen Frau Yasuko heute «in Asien». Wo genau, will er nicht verraten, da er nach der Buchveröffentlichung möglichst bald wieder in die Anonymität zurückkehren möchte.
«Gaddafis Rache – Aus dem Tagebuch einer Geisel», Wörterseh Verlag, 624 Seiten, ISBN 978-3-03763-103-4, Fr. 39.90
War man zu stolz?
Am Anfang wohl schon. Man hat es unterschätzt, wie stark sich der Gaddafi-Clan in seiner Ehre verletzt fühlte.
Sie kritisieren im Buch auch Leute in der Botschaft. Es habe Diplomaten gegeben, die nur an Ferien und ans Golfen gedacht hätten.
Der Konsul war psychisch nicht in der Lage, auf den Krisenfall richtig zu reagieren. Er war ein Schönwetter-Diplomat.
Sind die Schweizer Diplomaten auf Krisenfälle ungenügend vorbereitet?
Der Vorwurf gilt nicht für alle. Vor allem dieser Mann war überfordert.
Sind Sie von den Schweizer Behörden enttäuscht?
Nein, im Nachhinein ist man immer schlauer. Ich hoffe, dass mein Buch im EDA bei der Ausbildung von künftigen Diplomaten zur Pflichtlektüre wird …
Bundespräsident Hans-Rudolf Merz hat auf eigene Faust Gaddafi besucht, Aussenministerin Micheline Calmy-Rey hat Sie schliesslich heimbegleitet. Haben Sie das Gefühl, dass die beiden gegeneinander statt miteinander gearbeitet haben?
Dazu kann ich nichts sagen.
Warum haben Sie Hans-Rudolf Merz auf der Rückseite Ihres Buches Platz für einen Text eingeräumt und nicht Micheline Calmy-Rey, der Sie im Buch das Kapitel «Madame kommt» widmen?
Hans-Rudolf Merz ist es gelungen, den gordischen Knoten zu lösen. Er hat beim direkten Treffen mit Gaddafi den ersten grossen Schritt zur Lösung des Konflikts gemacht. Herrscher Gaddafi hätte eine solche Entschuldigung von einem Aussenminister nie akzeptiert.
War Calmy-Reys Auftritt bei Ihrer Heimführung nur Show?
Nein, sie musste sowieso nochmals nach Tripolis reisen, um gewisse Papiere zu unterschreiben.
Warum kam es überhaupt zum Drama, wer hat den grössten Fehler gemacht?
Der Fehler lag darin, dass man Gaddafis Sohn Hannibal in Genf nicht – wie es andere Länder gemacht haben – einfach vorgeladen, sondern gleich verhaftet hat. Der Konflikt hätte so vermieden werden können.
Ob die Polizei, die Behörden oder die Medien: Genf ist in Ihrem Buch immer wieder ein Thema. Auch der überforderte Konsul sei natürlich ein Genfer, schreiben Sie. Der kleine Kanton kommt überhaupt nicht gut weg. Ticken da die Leute anders?
Zwei Rechtsexperten haben sich zu deren Arbeit in diesem Fall geäussert. Ihr Fazit: In keinem andern Kanton würden auf Rechtsebene so viele Fehler begangen. Das war auch mein Empfinden.
Es war die «Tribune de Genève», welche die Polizeifotos nach Hannibals Verhaftung publizierte und damit Öl ins Feuer goss.
Es gibt drei Gründe, warum wir entführt wurden. Hauptgrund waren die für den Gaddafi-Clan demütigenden Bilder in der Zeitung, weitere Gründe waren die Verweigerung von Visa für Libyer sowie die Aussage des damaligen Ständerats Didier Burkhalter, dass die Schweizer Armee in der Lage wäre, uns zu befreien.
Sie verbrachten mehrere Monate gefangen auf der Schweizer Botschaft in Tripolis. Als sich die Krise verschärfte, zog die Schweiz das Personal ab und betraute Sie mit der diplomatischen Arbeit. Sie wurden sogar zum zweiten Botschaftssekretär befördert! Ist das nicht absurd?
Es war schon eine lustige Situation. Ich hatte schon vorher Zugang zu den Mails, zum Safe, zur Chiffrieranlage. Ich habe den lokalen Mitarbeitern der Botschaft die Löhne bezahlt und Anrufe entgegengenommen, zum Teil auch von Medien, die gar nicht wussten, dass sie mit mir sprachen. Das EDA verlieh mir eine Art Diplomatenstatus, offiziell akkreditiert wurde ich aber nie.
Bekamen Sie für diese Arbeit einen Lohn?
Nein …, aber ich war froh um diese Beschäftigung. Sie machte mir sogar Freude.
Gab es an Gaddafi auch irgendetwas Gutes?
Wenn man heute die Situation in Libyen betrachtet, könnte man tatsächlich zu diesem Schluss kommen. Der Clan ging zwar mit der Opposition alles andere als unzimperlich um, aber man wusste wenigstens, mit wem man es zu tun hatte. Ich hätte den Libyern eine Wende zum Positiven von Herzen gegönnt.
Von der zweiten Geisel, Rachid Hamdani, schreiben Sie im Buch: «Wie unterschiedlich wir doch sind!» Wie war er?
Wir haben verschiedene kulturelle Hintergründe. Er ist in Tunesien aufgewachsen und steht der arabischen Kultur dadurch näher.
Haben Sie noch Kontakt zu ihm?
Wir treffen uns einmal jährlich, wenn ich in die Schweiz komme.
Stehen Sie auch noch mit andern Leuten von damals in Kontakt? Mit Botschaftsangestellten? Mit Mithäftlingen und Gefängniswärtern, die Sie, wie Sie schreiben, teilweise gastfreundlich aufgenommen haben?
Mit Libyern nicht, aber mit der letzten Garde der Botschaft stehe ich regelmässig in Kontakt. Diese Leute litten ebenfalls unter der Situation.
Wie ging es Ihnen nach der Befreiung?
Es war anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Statt Freude empfand ich eine bleierne Leere. ABB hat es mir ermöglicht, dass ich mich ein paar Monate erholen konnte, bevor ich die Arbeit in Asien wieder aufnahm.
Gab es noch eine Nachbesprechung mit den Bundesbehörden?
ABB hat mir einen Psychiater angeboten, mit dem ich ein technisches Debriefing abhalten konnte, was für mich sehr wichtig war. Leider hat das EDA so etwas nie in Betracht gezogen. Es wäre für alle EDA-Beteiligten von Vorteil gewesen, um ebenfalls abschliessen zu können.
Auch das Buch gehört zur Verarbeitung Ihrer Leidenszeit. Abgeschlossen wird für Sie der Fall aber wohl nie sein?
Das Buch ist ein weiterer Schritt, um die Erlebnisse zu verarbeiten. Der Fall wird mich bis ans Lebensende begleiten.
Wie weit verfolgt Sie die Zeit in Libyen im Alltag? Haben Sie Gaddafi-Albträume?
Ich lebe inzwischen recht unbelastet, Träume sind selten und wenn, dann sind es keine Albträume.
Was haben Sie aus der Affäre gelernt?
Ich habe Einsicht ins Diplomatenleben erhalten und Menschen kennengelernt, mit denen ich sonst nie zu tun gehabt hätte. Es ist eine Lebenserfahrung, die sich hoffentlich nie wiederholen wird.
Das Aussendepartement weist Göldis Vorwürfe zurück: Die damalige Departementschefin Calmy-Rey und ihre Diplomaten hätten «das Dossier mit erstrangiger Priorität behandelt und enorme Anstrengungen» unternommen, um die Schweizer freizubekommen. Göldi habe kein separates Debriefing des Departements gewünscht. Zudem habe die Schweiz der Familie nach der Rückkehr einen geschützten Ort bereitgestellt.
Das Aussendepartement weist Göldis Vorwürfe zurück: Die damalige Departementschefin Calmy-Rey und ihre Diplomaten hätten «das Dossier mit erstrangiger Priorität behandelt und enorme Anstrengungen» unternommen, um die Schweizer freizubekommen. Göldi habe kein separates Debriefing des Departements gewünscht. Zudem habe die Schweiz der Familie nach der Rückkehr einen geschützten Ort bereitgestellt.
Vor zehn Jahren erlebte die Schweiz eine der schwersten aussenpolitischen Krisen der vergangenen Jahrzehnte. Nachdem die Genfer Polizei am 15. Juli 2008 Hannibal Gaddafi (43), den Sohn des damaligen libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi (†69), und seine hochschwangere Frau Aline (38) wegen Gewalt am Dienstpersonal festgenommen hatte, übte die libysche Regierung Rache an der Schweiz. So stoppte Herrscher Gaddafi die Erdöllieferungen, zog fünf Milliarden Franken aus der Schweiz ab, schloss alle Schweizer Unternehmen und verbot Swiss die Landung und Schweizer Schiffen das Anlegen in Libyen. Gaddafi bezichtigte die Schweiz des Terrorismus und forderte mehrmals, das Land zu zerschlagen und aufzuteilen.
Zwei Schweizer verhaftet
Kritisch wurde die Lage dann, als Gaddafi den Aargauer ABB-Angestellten Max Göldi (63) und den Waadtländer Rachid Hamdani (78) festnehmen und Göldi 23 Monate und Hamdani 19 Monate nicht ausreisen liess. Göldi beschreibt in seinem Buch «Gaddafis Rache – Aus dem Tagebuch einer Geisel», wie er monatelang in der Schweizer Botschaft in Tripolis ausharrte und mehrmals willkürlich in Gefängnisse gesteckt wurde. Verhandlungen fruchteten nichts.
Nachdem die «Tribune de Genève» die Polizeifotos von Hannibal Gaddafi veröffentlicht hatte, wurden Göldi und Hamdani 53 Tage an einem unbekannten Ort in Einzelhaft gesperrt. Göldi kassierte schliesslich eine viermonatige Haftstrafe wegen angeblichen Verstosses gegen das Einwanderungsgesetz.
Merz und Calmy-Rey rangen um die Geiseln
Für die Verhandlungen war das EDA federführend. Als diese erfolglos blieben, schaltete sich der damalige Bundespräsident Hans-Rudolf Merz (75) ein. Er reiste nach Tripolis, kam aber ohne Geiseln zurück. Nachträglich sagte Merz in einem Interview, die Schweizer Bemühungen hätten sich «im Widerschein von Arroganz, Willkür, Unrecht und Gewalt» abgespielt.
Schliesslich setzte sich Aussenministerin Micheline Calmy-Rey (SP, 73) in Szene, als sie Max Göldi am 14. Juni 2010 im Flugzeug heimbegleitete. Hamdani war bereits früher über Tunesien zurück in die Schweiz gereist. Die Ausreise kam zustande, nachdem die Schweiz Gaddafi unter anderem eine Kompensationsentschädigung von 1,5 Millionen Franken versprochen und mit deutscher Hilfe einen Staatsvertrag mit Libyen ausgehandelt hatte. Weil Gaddafi 2011 erschossen wurde und das Regime zusammenbrach, kam dieser Vertrag gar nie zur Anwendung.
Merz schreibt Göldis Buch
Hans-Rudolf Merz hat im Buch von Max Göldi einige Worte verfasst. «Die Geiselnahme war für die offizielle Schweiz, vor allem aber natürlich für die Angehörigen und die beiden Herren selbst, absolut zermürbend … Jetzt, fast ein Jahrzehnt später, die Aufzeichnungen von Max Göldi zu lesen, ist für mich nicht nur äusserst beeindruckend, sondern auch sehr spannend und in vielerlei Hinsicht erhellend. Sein Buch ist mehr als die Aufarbeitung der Libyen-Krise, es ist die Geschichte eines Menschen, der sich standhaft weigerte, zum Opfer zu werden.»
Gegenüber BLICK betont Hans-Rudolf Merz, dass er auf das Buch keinen Einfluss genommen habe und er sich zur Krise selber nicht äussern wolle. Merz: «Es ist begrüssenswert, wenn man die Geschichte nun von der anderen Seite hört. Ich selber aber will den Konflikt nicht wieder aufbrechen.»
Guido Felder
Vor zehn Jahren erlebte die Schweiz eine der schwersten aussenpolitischen Krisen der vergangenen Jahrzehnte. Nachdem die Genfer Polizei am 15. Juli 2008 Hannibal Gaddafi (43), den Sohn des damaligen libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi (†69), und seine hochschwangere Frau Aline (38) wegen Gewalt am Dienstpersonal festgenommen hatte, übte die libysche Regierung Rache an der Schweiz. So stoppte Herrscher Gaddafi die Erdöllieferungen, zog fünf Milliarden Franken aus der Schweiz ab, schloss alle Schweizer Unternehmen und verbot Swiss die Landung und Schweizer Schiffen das Anlegen in Libyen. Gaddafi bezichtigte die Schweiz des Terrorismus und forderte mehrmals, das Land zu zerschlagen und aufzuteilen.
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