Anja G.* (36) hält Jennifer (13) ganz fest an der Hand. Mutter und Tochter sind angespannt – denn dieser Samstag ist ein besonderer Tag für sie. Punkt 9 Uhr stehen die beiden vor der Aargauer Justizvollzugsanstalt Lenzburg.
Jennifer besucht zum ersten Mal ihren Papi, einen Verwahrten. Thomas Wiedmer (43), ehemaliger Schweizer Meister im Bodybuilding, wurde verhaftet, als Jennifer drei Wochen alt war.
«Als wir im Besucherraum gewartet haben, habe ich meine Beine vor lauter Aufregung nicht mehr gespürt», sagt die Schülerin aus Rothenburg LU.
Jennifer freut sich auf ihren Vater. Doch es sind auch gemischte Gefühle. Fragen, die sich über Jahre aufgestaut haben, schwirren in ihrem Kopf umher: «Wieso hat er diese schlimmen Dinge getan, wieso hat er uns alleine gelassen, wie wird er auf mich reagieren?»
Dann endlich ist es so weit. Thomas Wiedmer betritt den Raum. «Es war, als wenn wir uns schon ewig kennen würden», sagt Jennifer. «Ich bin sofort auf ihn zugelaufen und wir sind uns in die Arme gefallen. Er hat gesagt, dass er mich liebt und mich vermisst hat. Ich hab geweint. Es war ein Gefühl, das ich nicht in Worte fassen kann.»
Jennifer und ihr Vater haben zwei Stunden Zeit. Zwei Stunden, in denen Jennifer viele ihrer eigenen Charakterzüge in ihrem Vater wiedererkennt. «Das war toll. Ich bin total impulsiv. Mein Mami nicht. Jetzt weiss ich, woher ich das habe.»
Thomas Wiedmer entschuldigt sich wieder und wieder bei seiner Tochter.
«Er hat gesagt, er weiss nicht, wieso er diesen ganzen Blödsinn gemacht hat. Wenn er könnte, würde er die Zeit zurückdrehen», sagt Jennifer.
Doch dafür ist es zu spät. Der wegen schwerer Körperverletzung, Diebstahl und Vergewaltigung 1998 zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilte Ex-Bodybuilder wurde 2003 verwahrt.
Eine schreckliche Zeit für Jennifers Mutter Anja G. Die damals 23-Jährige hat ihr drei Wochen altes Baby und ist von einem Tag auf den anderen alleinerziehend.
«Ich habe Thomas 1996 in einer Bar kennengelernt. Es war Liebe auf den ersten Blick», erzählt sie. «Wir waren glücklich. Bis im November 1998 sechs Polizisten die Tür zu meiner Wohnung in Kriens aufbrachen und Thomas mitnahmen. Ich wusste nicht, wie mir geschah. Keiner sagte mir damals, worum es ging.»
Das ist das letzte Mal, dass die Nageldesignerin den Vater ihrer Tochter ausserhalb dicker Gefängnismauern sieht. «Anfangs war ich schrecklich wütend auf Thomas.» Doch die Wut weicht rasch der Verzweiflung – und der Sehnsucht.
Jede Woche geht Anja G. zu dem Vater ihrer Tochter ins Gefängnis. «Wenn wir uns wieder trennen mussten, hat es mich innerlich zerrissen. Ich habe jedes Mal schrecklich geweint.»
2002, als der Verwahrungsantrag im Raum steht, kann die junge Mutter nicht mehr. Sie trennt sich von Thomas. «Ich habe mich selber wie eine Gefangene gefühlt, keine Perspektive für mich und meine Tochter gesehen», erklärt Anja G. «Ich habe dann den Kontakt ganz abgebrochen.»
Und auch für Jennifer ist es nicht leicht, mit einem Verwahrten als Vater aufzuwachsen. «Sie hat recht früh angefangen, nach ihrem Vater zu fragen. Ich habe ihr von Anfang an die Wahrheit gesagt. Zuerst war sie geschockt.»
Nur ihren besten Freunden vertraut sich Jennifer an. «Allen anderen sagen wir, dass er uns verlassen hat. Das ist einfacher», sagt ihre Mutter. «Jennifer wird so schon genug gemobbt, weil sie ohne Vater aufwächst. Erst letzte Woche gab es im Religionsunterricht in der Schule das Thema Eltern. Die Kinder haben Jennifer so lange geärgert, bis sie vor der versammelten Klasse in Tränen ausgebrochen ist.»
Das Mädchen beschliesst, dass sie endlich ihren Vater kennenlernen will. «Sie wollte ihn persönlich fragen, wieso er kriminell geworden ist», sagt Anja G.
Für Wiedmer eine Nachricht, die ihm Hoffnung gibt. «Thomas hat immer gesagt: ‹Für Jennifer will ich mich bessern. Ich will hier rauskommen und ihr ein guter Vater sein›», sagt Anja G., die seit geraumer Zeit zum Verwahrten wieder Kontakt pflegt. Brieflich.
Wiedmer macht alle vorgeschriebenen Therapien, arbeitet an sich. So sehr, dass durch ein positives Gutachten 2007 die Verwahrung vom Obergericht Luzern aufgehoben wird. 2009 sollte er entlassen werden. «Das war für mich wie ein Wunder», sagt Anja G. «Wir haben uns schon vorgestellt, wie wir mit Jennifer an den See gehen. Einfach Dinge tun, die für andere normal sind.» Doch stattdessen wird ein zweites Gutachten angeordnet, das über eine weitere Verwahrung entscheiden soll. Thomas Wiedmer weigert sich – schaltet einen Anwalt ein. Seitdem kämpft er für sein Recht – und um seine Tochter.
«Mein Papi ist verwahrt», sagt Jennifer. «Ich möchte, dass er freikommt. Ich vermisse ihn!»
* Namen der Redaktion bekannt