Sieben Menschen starben am 26. November 2018 beim Brand eines Mehrfamilienhauses in Solothurn. Kurz nach dem Feuer wird Jenny S.* (26) verhaftet. Die Arbeitslose gab zu, im Bett geraucht zu haben. Ihre Mutter sagte nach der Tragödie, dass es ihrer Tochter «unendlich leid» tue.
Seit dem verheerenden Brand ist mehr als ein Jahr vergangen. Irené R.** (64) hat die Kraft gefunden, um mit BLICK über ihre Tochter – und das eigene Schicksal zu sprechen.
«Es geht mir nicht gut», sagt Irené R. «Ich wäre froh, wenn endlich alles geklärt wäre.» Damit man wisse, woran man ist. «Er muss lernen, damit umzugehen. Doch er kommt damit einfach nicht zurecht.»
Jenny S. kam als Mann zur Welt
Er? Immer wieder verspricht sich die Mutter im Gespräch, nennt ihre Tochter ihren Sohn. Denn: Jenny S. ist eigentlich ein Mann und fühlt sich (seit sie zwölf ist) im falschen Körper gefangen. Auch wenn noch keine Geschlechtsumwandlung erfolgte. Die Mutter dazu: «Heute ist sie überall die Jenny!».
Irené R. wirkt gefasst, aber: «Ich mache auch meine Sachen durch.» Sie ist geschieden, erhielt kurz vor dem Brand eine Krebsdiagnose – und hat gerade erst ihre Mutter verloren. Die Nachricht vom Feuerdrama hat sie erfahren, nachdem sie 33 Bestrahlungen hatte und vom Spital heimkam. «Ein harter Schlag, wenn man selbst gerade das Todesurteil erhalten hat.»
Nach dem Brand in der geschlossenen Anstalt
Ihre Tochter hat Irené R. nach dem Brand erstmals in einer geschlossenen Anstalt wiedergesehen: «Jenny weinte. Sie kannte ja die Kinder, die starben. Sie waren ab und zu bei ihr in der Wohnung.» Das Drama gab ihr den Rest: «Sie war schon da psychisch instabil und braucht jetzt noch professionelle Hilfe.»
Von Jenny S. hat die Mutter erfahren, dass sie an jenem Abend Schlaftabletten genommen und Zigarette geraucht habe. «Ob sie Alkohol getrunken hat, weiss ich nicht.»
Jenny sei nach dem Brand zuerst in der Region Basel untergebracht gewesen, dann im Kanton Solothurn. Seit dem Jahrestag sei sie nun in der Region St. Gallen. Vor dem dortigen Aufenthalt habe Jenny arbeiten dürfen – in einem Altersheim: «Die Chefin hat sie immer wieder zurück in die Unterbringung gebracht.» Jenny sei immer unter Aufsicht. Ob sie in der Ostschweiz arbeitet, weiss sie nicht. «Wir haben via Handy Kontakt. Aber ich frage nicht, damit sie zur Ruhe kommt.»
Prozesstermin noch offen
Wann der Prozess wegen mehrfacher fahrlässiger Tötung stattfindet, weiss Irené R. nicht. Sie hoffe, dass Jenny danach irgendwo hinkomme, wo sie geschützt sei. Denn: «Sie braucht sicher drei, vier Jahre, bis sie alles verdauen kann.»
Woher nimmt Irené R. die Kraft, das alles durchzustehen? «Ich habe fünf gute Kinder, die mich unterstützen. Dass eines Probleme hat – da kann niemand etwas dagegen tun.» Sie sei ein positiver Mensch. «Sonst lebe ich keinen Tag mehr.»
Angefeindet wird Irené R. wegen ihrer Tochter nicht. Auf dem Herzen liegt ihr vielmehr, dass Jenny schon vor dem Brand Hilfe brauchte. Und: «Dass ihr weder ein Psychologe noch der Staat geholfen hat. Dabei müsste man einschreiten, wenn jemand trinkt und abstürzt.» Sie selber habe ihr nicht helfen können. «Sie war erwachsen. Ich hatte rechtlich keine Möglichkeit.»
Keine Vorwürfe gegen die Tochter
So oder so: Für Irené R. bleibt Jenny ihre Tochter. «Sie hat es ja nicht extra gemacht. Und wie sie leidet, das sieht niemand», sagt die Mutter. «Jenny sagt oft, sie wäre lieber tot.»
An die Abdankung habe weder sie noch Jenny gehen können. «Wir waren zu schlecht zwäg und hätten Polizeischutz gebraucht», sagt Irené R. Ihr würden die Angehörigen «wahnsinnig leid» tun. «Es ist für beide Seiten nicht einfach. Aber leider. Man kann es nicht ändern.»
* Name geändert
** Name d. Red. bekannt