Der Fall schien klar, die Schuldige gefunden: Jenny S.* (26) gab im November 2018 zu, dass sie im Bett geraucht habe. Die schreckliche Folge: sieben Brandtote in einem Mietshaus in Solothurn.
Doch nun zeigen BLICK-Recherchen: Jean-Claude Cattin (50), Anwalt der Angehörigen der vierköpfigen eritreischen Familie, die bei der Tragödie starb, sieht womöglich weitere Personen in der Verantwortung. Er hat deshalb bei der Solothurner Staatsanwaltschaft einen Ausdehnungsantrag gestellt.
Anwalt hat Akteneinsicht und handelt
Cattin bestätigt: «Bei Sichtung der Akten habe ich gesehen, dass nicht nur der unmittelbare Brandverursacher durch unsachgemässen Gebrauch von Raucherwaren schuldig sein könnte, sondern dass sich die Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit auch in Bezug auf andere Personen stellt.»
Konkret handelt es sich dabei um Menschen aus dem Umfeld von S. «Die primär beschuldigte Person hatte grosse gesundheitliche Probleme», erklärt der Anwalt. «Deshalb hat man ein Setting gemacht, für das eine Beiständin ernannt wurde.» Diese Fachperson habe auf S. achten müssen.
Aber auch ein Mitarbeiter der Psychiatrie-Spitex sei regelmässig bei der Beschuldigten vorbeigegangen. Cattin weiter: «Es stellt sich auch die Frage, ob der Hausarzt, der in gewisser Weise Kenntnis hatte über ihren Allgemeinzustand, allenfalls eine Mitverantwortung hat.» S. soll schon lange vor dem Brand nikotin- und alkoholabhängig gewesen sein – zudem habe sie auch starke Medikamente eingenommen.
Die Liegenschaft war in keinem guten Zustand
Und: Auch die Hauseigentümerin könnte eine Mitverantwortung treffen. Denn, so Cattin: Die Liegenschaft sei absolut an der Grenze der Baufälligkeit sowie ohne adäquate Brandschutzmassnahmen ausgerüstet gewesen. So soll es keine Rauchmelder und keine Notausgangsschilder gehabt haben.
Der Anwalt führt aus: «Diese Person in einem ungenügend beaufsichtigten Setting dort wohnen zu lassen, im Wissen darum, dass sie trinkt, Kettenraucherin ist und starke Medikamente nimmt, ist ein Indiz dafür, dass die Verantwortlichkeit anderer Personen noch geprüft werden muss.» Er hoffe, dass die Staatsanwaltschaft den Antrag genehmigt.
Im Moment sei S. die einzige Person, die beschuldigt werde. «Natürlich trifft sie eine strafrechtliche Verantwortung für diese Tragödie», so Cattin. «Ich bin aber nach Konsultation der Akten und den dort klar geprüften Tatsachen der Meinung, dass sie nicht allein die Verantwortung dafür trägt, was passiert ist, und die Tragödie mit frühzeitigen Massnahmen hätte verhindert werden können.»
Etliche Alkoholflaschen und Schaumstoffmatratze
Laut BLICK-Informationen sollen nach dem Brand in der Mietwohnung der transsexuellen S. – sie wurde als Mann geboren – etliche Alkoholflaschen gefunden worden sein. Sie soll auf einer Schaumstoffmatratze geschlafen haben. Bei ihr soll zudem der Verdacht bestehen, dass sie an einer posttraumatischen Belastungsstörung und einer leichten Intelligenzminderung leidet. Und: In einem früheren Bericht soll festgestellt worden sein, dass eine Indikation und Motivation zur stationären Psychotherapie in ausreichendem Mass gegeben sei.
Es soll ausserdem ein halbes Jahr vor der Tragödie Warnhinweise gegeben haben. Wenige Wochen vorher sei eine Zwangseinweisung Thema gewesen. Nur zwei Tage vor dem Brand soll sich auch die Schwester von S. bei den Behörden gemeldet und eine Zwangseinweisung für sie verlangt haben.
Staatsanwaltschaft bestätigt Eingang des Antrags
Cattin hält fest: «Es wird nicht die Absicht verfolgt, die genannten Personen zu kriminalisieren. Dennoch ist es angesichts des Ausmasses dieser Brandkatastrophe mit sieben Todesopfern erstaunlich, dass keine der Personen, welche die beschuldigte Person betreuten, befragt worden ist.»
Die Staatsanwaltschaft bestätigt BLICK, dass ein Antrag eingereicht wurde. «Er wird jetzt geprüft und dann wird über die weiteren Schritte entschieden», so Sprecher Jan Lindenpütz. Er bestätigt auch, dass sich die Strafuntersuchung aktuell gegen eine Person richtet. Und die laut Cattin bisher nicht befragten Personen? Lindenpütz: «Gemäss unserer Praxis machen wir keine Angaben darüber, ob, wer und wie oft jemand einvernommen wird.»
* Name geändert