Leo (11) aus Laufenburg AG war beinahe tot. Im September 2020 stürzte der damals Neunjährige aus dem ersten Stock sechs Meter in die Tiefe. Seine Mutter Marta K.* (33) erinnert sich, wie sie ihren Sohn nach dem Unfall im Basler Kinderspital sah. «Leo war im Schockraum und blutüberströmt», sagt sie zu Blick. «Er lag in diesem Moment im Sterben. Dann gings ab in den OP-Saal. Dort operierten sie meinen Leo über sechs Stunden lang.»
20 Monate sind seit dem Vorfall vergangen. Jetzt kommt es zum Prozess. Passiert war der Unfall während des Mittagstisches an der Primarschule. Eine Aufsichtsperson war für Leo und die anderen Kinder zuständig. Der Fall wurde mit einem Strafbefehl abgehandelt. Adrian Schuler von der Aargauer Staatsanwaltschaft erklärt dazu: «Gegen den Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Rheinfelden-Laufenburg wurde das Rechtsmittel ergriffen, weshalb der Fall nun vor dem Bezirksgericht verhandelt wird.»
«Während Aufsichtsperson weg war, stürzte Leo aus dem Fenster»
Konkret: Gemäss Blick-Informationen hat die beschuldigte Aufsichtsperson Einsprache erhoben. Am 7. Juni muss sie deswegen vor dem Bezirksgericht Laufenburg erscheinen.
Dabei wird ihr Happiges vorgeworfen: fahrlässige schwere Körperverletzung sowie Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht. Die Meinung von Leos Mutter Marta K. ist eindeutig: «Die Aufsichtsperson war sich ihrer Pflicht nicht bewusst. Ich fordere, dass diese Person ein Berufsverbot erhält.»
Denn gemäss Leos Mutter habe die Aufsichtsperson an besagtem Mittag im September den Raum verlassen, während die Kinder drinnen am Spielen waren. «Während die Person weg war, stürzte Leo aus dem Fenster.»
Der Junge war damals neun Jahre alt und in der dritten Klasse. Er erinnert sich an den verhängnisvollen Tag. «Nach dem Mittagstisch-Essen spielten wir ein Spiel», sagt er zu Blick. «Die Mädchen mussten versuchen, uns Jungs ein Plüschtier wegzunehmen.» Mindestens eines der bodentiefen Fenster soll offen gewesen sein. Denn wegen Corona musste gelüftet werden.
«Ich habe nichts gefühlt»
Dann passiert es: Leo steigt auf die Fensterbank, schaut nach hinten und redet mit den anderen Kindern. «Ich stützte mich mit den Händen an den Fenstern entlang», erzählt der Bub. Plötzlich greift er ins Leere und stürzt hinunter. Nach dem Aufprall auf dem Boden habe er «nur weiss» gesehen, sagt Leo. «Ich habe nichts gefühlt.»
Der Drittklässler wird ins Spital gebracht und dort ins künstliche Koma versetzt. Die Liste seiner Verletzungen ist horrend. Die Mutter erzählt: «Seine rechte Niere hat in den Bauch geblutet. Seine Leber hatte zwei Risse. Die Blutbahn am rechten Unterarm war zerfetzt. Seine Arme waren gebrochen.» Damit nicht genug: Leo erleidet einen Schädelbruch. «Seine Hirnhaut war gerissen. Erst sieben Wochen nach dem Unfall wusste ich, warum er aus der Nase tropfte», sagt die Mutter. «Hirnflüssigkeit lief raus.»
«Das Hirn war beim Aufprall nach vorne gerutscht»
Daher musste der Schädel des Jungen geöffnet werden. «Das Hirn war beim Aufprall nach vorne gerutscht», erklärt Marta K. «Der Riss musste zugemacht werden.» Die siebte OP seit dem Unfall.
Auch jetzt noch, 20 Monate nach dem Unfall, sind die äusserlichen Spuren zu sehen: Leo hat eine grosse Narbe quer über den Schädel. Dazu eine auf der Stirn und eine am Unterarm. Und: «Die Schmerzen sind noch da», sagt der Bub. «Ich habe weh beim Schreiben. Im Sportunterricht habe ich Mühe mit gewissen Bewegungen. Manchmal tut mir meine Hand weh. Immerhin nehmen die Kopfschmerzen immer mehr ab.»
Doch es ist nicht nur diese physische Komponente – auch sein Wesen habe sich verändert, sagt die Mutter: «Er vergisst immer wieder Dinge. Das war vor dem Unfall kaum der Fall.» Und ihr Sohn sei ein aktives und sportliches Kind gewesen. «Er spielte Tennis, fuhr Motocross, Inlineskate und Velo. All das tut er jetzt kaum noch oder gar nicht mehr.»
«Habe das Vertrauen in diese Schule verloren»
Dazu sei es nach dem Unfall auch zu einer Veränderung der schulischen Leistungen gekommen. «Früher war er ein guter Schüler. Jetzt sind die Noten schlechter. Man darf nicht vergessen: Er hat nach dem Unfall fast vier Monate vom Unterricht verpasst.»
Jetzt ist Leo wieder im normalen Schulalltag drin. «Ja, ja, ich gehe schon gerne hin», sagt er. Doch die Mutter betont: «Die Schule ist mitschuldig am Unfall meines Sohnes.» Das Gebäude sei nicht kindergerecht gebaut worden. «Bei den Fenstern müsste ein Gitter sein. Oder sie sollten sich nur ein paar Zentimeter öffnen lassen.» Ihr Fazit: «Ich habe das Vertrauen in diese Schule verloren.»
Derweil drückt der Laufenburger Schulleiter Philipp Grolimund seine Betroffenheit und diejenige der Lehrpersonen aus: «Die Schwere des Unfalls hat uns alle sehr beschäftigt.» Man sei deshalb sehr froh und erleichtert, dass Leo seit längerem wieder den regulären Unterricht besuchen könne. Die von Blick gestellten Fragen könne er nicht beantworten und verweise auf die Stadt Laufenburg.
Aber auch diese nimmt auf Anfrage keine Stellung – wegen des laufenden Verfahrens. Und Rechtsanwalt André Kuhn (47), Verteidiger der beschuldigten Aufsichtsperson, sagt, er wolle sich vor der Verhandlung nicht äussern.
* Name der Redaktion bekannt