Er ist immer noch auf der Flucht: Amin T.* (34), der am 4. Oktober beim Ausstieg aus dem Gefangenenfahrzeug vor dem Migrationsamt in Aarau mit Crocs an den Füssen einem Securitas-Mitarbeiter davonrennen konnte. Die Polizei fahndet seither mit einem Klarbild nach dem Mann. Der Tunesier war in Ausschaffungshaft, nachdem er illegal in der Schweiz gelebt hatte, Straftaten begangen hatte und im 2021 vor Gericht in Olten SO zu 27 Monaten sowie einem achtjährigen Landesverweis verurteilt wurde.
Jetzt zeigen Blick-Recherchen: Der Tunesier, dessen Asylantrag 2014 abgelehnt wurde, scheint von den Behörden jahrelang mit Samthandschuhen angefasst worden zu sein. «Dieser Fall überrascht mich nicht», sagt Martina Bircher (38), Sozialvorsteherin in Aarburg AG und SVP-Nationalrätin. «Es darf nicht sein, dass er acht Jahre später immer noch hier ist. Vor allem, wenn er mehrfach straffällig wurde.»
Flug war bereits gebucht
Angefangen hat es damit, dass man T. im Jahr 2014 nicht nur den Flug nach Tunesien gebucht hat, den er nicht wahrnahm. Man hat ihn, nachdem er ab Juni 2015 mit Delikten begonnen haben soll, auch meist wieder gehen lassen, wenn er von der Polizei aufgegriffen wurde. So soll er unter anderem mit Drogen gedealt haben.
Laut einem Strafbefehl vom 2. Februar 2017 soll T. zwischen Juli 2015 und dem 18. Oktober 2016 zudem mehrere Delikte gegen das Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG) begangen haben. Dafür wurde er zu einer unbedingten Strafe von 40 Tagen verurteilt.
In Olten soll er zwischen dem 2. April 2017 und dem 24. April 2019 elf Mal von der Polizei erwischt worden sein, weil er gegen Rayonverbote verstossen hatte. Bircher: «Schon da hätten bei den Behörden die Alarmglocken läuten müssen!»
Amin T. wird erneut straffällig
T. soll zwischen dem 14. Februar 2018 und 24. April 2019 erneut Delikte begangen haben. Unter anderem soll er seiner Freundin Knochenbrüche im Gesicht zugefügt und einer Frau zweimal den Kiefer gebrochen haben. Er soll weitere Männer verprügelt haben – wie etwa Sylla F.** (50).
Am 6. Mai 2019 wurde T. schliesslich verhaftet. Aber auch im Gefängnis hörte er nicht auf. Er demolierte eine Zelle in Olten und Solothurn. Vor Gericht in Olten gab er sich grösstenteils unschuldig und zog das Urteil vor Obergericht, wo das Verfahren hängig ist.
Der Aargauer FDP-Nationalrat Matthias Jauslin sagt: «Genau solch skrupellose Typen tragen dazu bei, dass die Ausländerfeindlichkeit in unserem Land zunimmt.» Das schade der ausländischen Bevölkerung, die sich in unserem Land korrekt verhalte. «Es ist unverständlich, dass uns derartige Typen auf der Nase herumtanzen und es unsere Behörden nicht schaffen, dem einen Riegel zu schieben.»
«Locker mehrere 100'000 Franken»
Bircher sagt: «Bei den Kosten, die dieser Mann in der Schweiz schon verursacht hat, sträuben sich bei mir die Haare. Bei einem Negativentscheid hat er uns Steuerzahler etwa 1000 Franken pro Monat gekostet – ausser, wenn er gerade irgendwo illegal wohnte.» Hinzu würden die Kosten bei der Polizei, Staatsanwaltschaft, beim Migrationsamt und bei den Gerichten kommen. «Da kommen locker mehrere 100'000 Franken zusammen», ist sich Bircher sicher.
Und was sagen die Behörden? «Die zuständige Staatsanwaltschaft kann bei ausländerrechtlichen Verstössen einen Strafbefehl erlassen und den Beschuldigten unter anderem zu einer unbedingten Freiheitsstrafe verurteilen», heisst es bei der Solothurner Staatsanwaltschaft. Über die Prüfung ausländerrechtlicher Massnahmen – etwa nach dem Vollzug eines unbedingten Freiheitsentzugs – sei das jeweilige Migrationsamt zuständig.
Dies ist im Fall von T. das Amt für Migration und Integration (Mika) in Aarau. Dort nimmt man zum Hauptvorwurf der Nicht-Inhaftsetzungen nur allgemein Stellung: «Ist das Mika für eine ausreisepflichtige Person zuständig, überprüft es stets, ob eine ausländerrechtliche Haft angezeigt sei.» Seien die Voraussetzungen dafür gemäss dem Ausländer- und Integrationsgesetz nicht erfüllt, könne diese nicht angeordnet werden.
Behörden wollen Verfahren korrekt geführt haben
Für Bircher steht fest: «Da haben das Aargauer Migrationsamt und wohl noch weitere Behörden meines Erachtens versagt!» Fehler wollen aber weder das Migrationsamt noch die Staatsanwaltschaft gemacht haben. Beide sagen für sich: «Das Verfahren wurde korrekt geführt.»
Nationalrat Jauslin, der bei der Beratung des neuen AIG involviert war, sagt: «Wir haben griffige Instrumente geschaffen, damit die Behörden den Schutz der öffentlichen Ordnung sicherstellen kann.» Es sei eine strikte Umsetzung der neuen Gesetze gefordert. Dies solle «hart, aber fair» geschehen. Und: «Schweizer Interessen und Werte haben Vorrang.» Er erwarte, dass die Kantonsbehörden die rigorosen Möglichkeiten «ausschöpfen, strikte anwenden und vollziehen». Es sei äusserst bedenklich, dass man solche Personen wie Amin T. «immer noch mit Samthandschuhen» anfasse.
SEM verweist auf Kantone
Und was sagt das Staatssekretariat für Migration (SEM) in Bern, das für das Asylverfahren von T. zuständig ist? «Für die Anordnung der ausländerrechtlichen Zwangsmassnahmen sind die Kantone zuständig.» Diese könnten, so das SEM weiter, Administrativhaft anordnen, wenn einer der im dafür vorgesehenen Gesetzesartikel aufgeführten Haftgründe erfüllt sei.
Amin T. dürfte mindestens zwei Bedingungen für eine Haft erfüllt haben. Weil er sich rechtswidrig in der Schweiz aufhielt. Und: Weil er ein ihm zugewiesenes Gebiet verliess. Heisst: Hätte das Aargauer Migrationsamt gewollt, hätte es bei T. bereits seit 2017 Administrativhaft anordnen können.
* Name geändert
** Name bekannt
Flucht aus dem Knast
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