Bahnhof Winterthur, 5.20 Uhr. Ich steige in den menschenleeren Zug nach Frauenfeld. Der Hauptort meines Heimatkantons ist nicht die einzige Kantonshauptstadt, die ich besuchen will. Ich habe mir einen Plan zurechtgelegt, wie ich innerhalb von zwei Tagen alle 26 abklappern kann. Und zwar mit dem Zug – und dem GA, beziehungsweise dem Swisspass meines Arbeitskollegen Moritz Kaufmann.
Seit ich einen Swisspass besitze, lässt mich das Gefühl nicht los, dass die Kondukteure nur prüfen, ob ein gültiges Ticket auf der Karte ist. Das Foto wird kaum beachtet. Täusche ich mich, frage ich die SBB. Die unmissverständliche Antwort der Medienstelle: «Ja, Ihr Eindruck täuscht. Die internen Weisungen sind klar, wonach das Foto zu prüfen ist.» Um herauszufinden, ob das stimmt, wage ich den Selbstversuch.
Kontrollen sind stets ein Balanceakt
Von Frauenfeld geht es via Herisau und Appenzell nach St. Gallen. Den Sonnenaufgang erlebe ich im Appenzeller Bähnli. Die grünen Hügel, die am Zugfenster vorbeiziehen, sind noch vom Reif bedeckt. Hie und da ist in der Ferne die Silhouette eines Bauernhauses zu sehen. Kontrolliert werde ich bis Chur nie. Eine Erkenntnis gewinne ich aber trotzdem: Die Rushhour ist deutlich gemütlicher, wenn man in Zweibrücken AR auf den Zug geht.
Der erste Härtetest kommt auf der Fahrt von Ziegelbrücke nach Glarus. Zwei Kontrolleure gehen durch den Waggon. In sympathischem Glarner Dialekt plaudern sie mit den Fahrgästen. Man kennt sich. Ich werde nervös.
Was, wenn ich sofort auffliege? Ich gleiche Moritz, der sich selbst als strassenköterblond bezeichnet, überhaupt nicht. Ach, hätte ich doch nur das GA von jemandem genommen, dem ich ähnlicher sehe, denke ich noch – dann ist der Kontrolleur schon wieder weg. Er hat das Foto auf dem Swisspass keines Blickes gewürdigt.
Kontrollen sind für die SBB ein Balanceakt. Einerseits müssen sie dafür sorgen, dass alle Passagiere ein gültiges Billett haben und die Einnahmen gesichert sind. Andererseits wollen sie die Kunden nicht verärgern, indem sie extrem pingelig sind und ihnen Zeit rauben.Pro Jahr entdecken die SBB-Zugbegleiter rund 900 Personen, die mit einem Abonnement unterwegs sind, das ihnen nicht zusteht. Hinzu kommen etwa 400 bis 500 gefälschte Billette und Abonnements. Die Zahlen seien auch mit dem neuen Swisspass stabil geblieben, sagt SBB-Sprecher Oliver Dischoe. Aber: «Bei den Fälschungen gab es seit Einführung des Swisspass eine Verschiebung von den Abos, also den Plastikkarten, hin zu Papiertickets.»
Nach jeder Kontrolle werde ich entspannter
Jedes Jahr entgehen den SBB durch Reisende ohne gültige Fahrausweise ein zweistelliger Millionenbetrag. «Schwarzfahren ist unfair und schädigt die Transportunternehmungen», sagt Dischoe, stellt aber klar: «Wir wollen kulant sein mit unseren Kundinnen und Kunden – insbesondere im Erstfall.»
Wie viel jährlich für die Billettkontrolle ausgegeben wird, behalten die SBB für sich. Ich werde auf dem Weg von Pfäffikon SZ nach Arth-Goldau SZ erneut kontrolliert und dann auch bei der Fahrt durch den Gotthard-Basistunnel ins Tessin. Entlarvt werde ich nicht. Erst im Panoramazug von Locarno TI nach Domodossola (I) werde ich zur Kasse gebeten: Für die traumhafte Aussicht werden Fr. 1.50 extra fällig. Den Rest regelt der Swiss Pass von Moritz.
Am Abend meines ersten Reisetags erreiche ich Neuenburg, den 13. Kantonshauptort meiner Tour de Bschiss. Unbehelligt.
Mit jeder Kontrolle, bei der ich unentdeckt bleibe, werde ich entspannter. Ganz selbstverständlich zeige ich den Swisspass meines Arbeitskollegen. Und ganz selbstverständlich geben ihn mir die Kontrolleure wieder zurück. Oft mit einem freundlichen Lächeln. Die Servicequalität stimmt – und ist offensichtlich wichtiger als die Einnahmesicherung.
Die Qualität der Billettkontrollen hängt stark von den Zugbegleitern ab. Das wird auch an ihren Schulungen thematisiert. Für Diskussionen sorgte eine Folie, die zeigte, dass die Zugbegleiter im Regionalverkehr deutlich mehr Billettfälschungen entdecken als ihre Kollegen im Fernverkehr. Konkret hat im vergangenen Jahr jeder vierte der 280 Regionalverkehr-Zugbegleiter eine Billettfälschung entdeckt. Von den 1780 Fernverkehr-Zugbegleitern dagegen nur jeder 17.
Dazu SBB-Sprecher Dischoe: «Im Fernverkehr sind in der Regel Zweierteams unterwegs, die ausser der Kontrolltätigkeit noch andere Aufgaben haben. Bei den Stichkontrollen im Regionalverkehr, die von bis zu vier Personen durchgeführt werden, steht die Kontrolle im Vordergrund.»
Schauen sie in Zukunft genauer hin!
Ich fliege weder im Fern- noch im Regionalverkehr auf. Auch am zweiten Tag erreiche ich problemlos einen Hauptort nach dem anderen. Pünktlich um 17.19 Uhr treffe mit dem Zug aus Schaffhausen in Winterthur ein. Mit 31 Zügen habe ich es geschafft, die 26 Kantonshauptstädte abzufahren.
Kontrolliert wurde ich 15 Mal. Probleme gab es keine. Und am Ende habe ich selbst beinahe das Gefühl, dass ich aussehe wie Moritz.
Nach meiner Reise frage ich die SBB erneut, ob es sein könnte, dass seit der Einführung des Swisspass weniger aufs Foto geachtet wird. Die Bundesbahnen wollen sich dazu jetzt nicht mehr äussern: «Was indirekt zu illegalen Handlungen anleitet, kommentieren wir nicht.»
Liebe SBB, dieser Artikel soll keine Handlungsanleitung sein zum Betrügen! Vielmehr soll das Experiment anregen, bei der Billettkontrolle in Zukunft etwas genauer hinzuschauen. Denn wenn es so einfach ist, mit einem falschen GA durch die Schweiz zu fahren, schadet das am Ende allen ehrlichen Kunden. Sie sind es, welche die entgangenen Einnahmen berappen müssen – mit steigenden Billettpreisen.Und übrigens: Ich habe auch einen Swisspass mit meinem eigenen Namen, inklusive GA. Den hatte ich bei meinem Selbstversuch ebenfalls dabei – allerdings ganz hinten im Portemonnaie. Den SBB ist durch meine Tour de Bschiss also kein Schaden entstanden.