In den Jahren 1918 und 1919 wütete die Spanische Grippe weltweit und kostete schätzungsweise zwischen 50 und 100 Millionen Menschen das Leben. Allein in der Schweiz forderte die Seuche 25'000 Menschenleben. Dass die schlimmste Pandemie des 21. Jahrhunderts durch ein Virus verursacht wurde, vermuteten Fachleute bereits zum Höhepunkt der Grippepandemie. Molekulare Analysen in den 1990er Jahren ergaben, dass es sich beim Erreger um das Influenza-A-Virus vom Subtyp H1N1 handelte.
Ein internationales Forschungsteam um Sébastien Calvignac-Spencer vom Robert Koch-Institut (RKI) in Berlin liefert nun weitere wertvolle Erkenntnisse zum Spanischen Grippeerreger. Genomanalysen aus alten Proben aus dem Lungengewebe von drei Grippetoten legen demnach nahe, dass der Grippestamm der 1918-Influenza sehr wahrscheinlich noch heute unter uns ist. Dies widerspreche der gängigen Annahme, dass die saisonal zirkulierenden H1N1-Erreger durch Rekombination von verschiedenen Viren entstanden seien, berichten die Forschenden im Fachblatt «Nature Communications».
Das genetische Material des Influenzavirus gewannen die Forschenden aus Lungenproben, die im Medizinhistorischen Museum der Charité in Berlin und im Naturhistorischen Museum in Wien aufbewahrt wurden. Es gelang ihnen, daraus ein Genom vollständig und zwei teilweise zu sequenzieren.
Eine Studie aus dem Jahr 2005 mit Proben aus den USA deutete bereits darauf hin, dass das saisonale H1N1-Grippevirus ein direkter Nachfahre des Grippestamms von 1918 sein könnte. Es sei nun aber das erste Mal, dass dies mit Proben von Grippetoten in Europa nachgewiesen und somit untermauert werden konnte, sagte die Mitautorin und Paläogenetikerin Verena Schünemann von der Universität Zürich im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA.
Zudem ermöglichten die Genomanalysen einen Einblick in die Dynamik der Pandemie, die in mindestens zwei Wellen verlief. Während der ersten Ansteckungswelle im Frühjahr 1918 erkrankten zwar sehr viele Menschen, aber relativ wenige starben. Im Herbst nahm jedoch eine weitere, viel tödlichere Welle ihren Lauf.
«Wir fanden nun Hinweise, dass sich das Virus zwischen den beiden Wellen besser an seinen Wirt - den Menschen - angepasst haben könnte», sagt Schünemann. Insbesondere im Nukleoprotein-Gen gebe genetische Mutationen, die dem Virus erlaubten, besser sich an die menschliche Immunantwort anzupassen.
Aus der Analyse der genetischen Vielfalt des Erregers ging ebenfalls hervor, dass sich die Ansteckungswellen zwar überwiegend lokal ereigneten. Dennoch gab es auch häufigere Ausbreitungsereignisse über grosse Entfernungen. Dies stehe im Einklang mit dem historischen Kontext gegen Ende des Ersten Weltkriegs, als Soldaten vom Schlachtfeld in ihre Heimat zurückkehrten, so die Forschenden.
Aufgrund der «sehr kleinen Stichprobengrösse» räumen sie ein, dass die Ergebnisse als vorläufig anzusehen seien. Zusätzliche Genome aus Archivproben würden «zweifellos die Möglichkeit bieten, die Hypothesen robuster zu testen.» Leider, schreiben sie, seien solche Exemplare selten und schwierig zu finden, was die Bedeutung von lange vernachlässigten Museumsaktivitäten unterstreiche.
Auch Schünemann betont den Wert von medizinhistorischen Sammlungen, wo sich noch viele Schätze verbergen dürften. «Insbesondere mit den heute verfügbaren Sequenziermethoden haben wir die Möglichkeit, weit detailliertere Einblicke in vergangenen Pandemien zu erhalten als bisher», so die Forscherin.
https://www.nature.com/articles/s41467-022-29614-9
(SDA)