Medizin
Intensivärzte und Geriater wollen unnötige Behandlungen vermeiden

Einige medizinische Behandlungen bringen Patienten keinen Nutzen oder schaden ihnen gar: Die Fachgesellschaften der Geriater und der Intensivmediziner haben in Bern Listen mit Empfehlungen vorgestellt, mit deren Hilfe Ärzte unnötige Behandlungen vermeiden können.
Publiziert: 12.06.2017 um 11:37 Uhr
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Aktualisiert: 01.10.2018 um 02:00 Uhr
Geht Ende Juni in Betrieb: Das Notfallzentrum und Zentrum für Intensivmedizin am Luzerner Kantonsspital, LUKS. (Archiv)
Foto: KEYSTONE/ALEXANDRA WEY

Die Top-9-Liste der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI) empfiehlt bei Patienten «mit einem signifikanten Risiko zu sterben oder schwerwiegende Schäden davonzutragen» lebenserhaltende Massnahmen nur dann fortzusetzen, wenn mit dem Patienten - oder den Angehörigen, die ihn vertreten - zuvor die Behandlungsziele besprochen wurden. Und zwar unter Berücksichtigung der Werte und persönlichen Wünsche des Patienten.

Die Intensivmediziner erhoffen sich unter anderem, dass dadurch die Behandlungsdauer und -intensität nicht «unangemessen» verlängert werden, wie aus den am Montag veröffentlichten Empfehlungen hervorgeht.

Bei Patientinnen und Patienten, die mechanisch beatmet werden müssen, empfiehlt die SGI, dass diese so sediert sind, dass ein «tägliches Aufwachen - sei es auch nur teilweise - ermöglicht» werde. Als «erwartete positive Wirkung» werden eine kürzere Dauer der Beatmung, weniger Komplikationen, und dass die Betroffenen wieder früher auf die Beine kommen, angegeben.

In der modernen Intensivmedizin konzentrierten sich die Problemelemente des Gesundheitssystems, schreibt die SGI im Begleittext: «betagte Patienten mit hohem Versorgungsbedarf, üppiges Angebot an komplexen und kostspieligen Technologien, hohe Personaldichte.» Die SGI will nun die Umsetzung in die Praxis und die Auswirkungen beurteilen und weiterentwickeln.

Die Schweizerische Fachgesellschaft für Geriatrie (SFGG) schlägt in einer Top-5-Liste vor, Patienten mit schwerer Demenz möglichst nicht zur Nahrungsaufnahme mittels Magensonde zu zwingen, denn diese reagierten mit Unruhe. Dies führe dazu, dass sie vermehrt fixiert und mit Medikamenten ruhig gestellt würden. Und es gebe mehr Druckgeschwüre.

Auch schwer demenzkranke Menschen sollten normale Nahrung erhalten, die via den Mund verabreicht werde. «Dies braucht oft viel Zeit und Geduld sowie mitunter auch Kreativität», heisst es im Beiblatt. Voraussetzung dafür seien gut geschultes Pflegepersonal und genügend davon in der Einrichtung.

Eine weitere Empfehlung lautet, möglichst keine Benzodiazepine oder ähnlich wirkende Arzneien an ältere Erwachsene abzugeben. Diese wirken gegen Schlaflosigkeit, Unruhezustände oder Verwirrtheit. Studien zeigten, dass sich wegen dieser Medikamente das Risiko für Verkehrsunfälle, Stürze und Hüftfrakturen und damit für Spitalaufenthalte oder gar den Tod von älteren Menschen mehr als verdoppeln könne, heisst es in der Top-5-Liste der SFGG.

Die Listen wurden im Rahmen einer Medienkonferenz von «smarter medicine» vorgestellt. Die von der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGIM) 2014 lancierte Initiative gegen unnötige Behandlungen und Überversorgung in der Medizin gab in Bern bekannt, dass ihre Kampagne inzwischen auf breitere Unterstützung zählen kann.

Zusammen mit der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) wurde ein Trägerverein gegründet. Mit an Bord sind die Berufsorganisationen im Gesundheitswesen (svbg), der Dachverband Schweizerischer Patientenstellen (DVSP) sowie die Konsumentenorganisationen Stiftung für Konsumentenschutz (SKS) und ihre Schwesterorganisationen im Tessin und in der Westschweiz.

Bislang wurden eine Liste für den ambulanten und eine weitere für den stationären Spitalbereich veröffentlicht. Am Montag übten die Verantwortlichen auch Selbstkritik: Im Gegensatz zu anderen Ländern habe die «smarter medicine»-Kampagne in der Schweiz noch nicht so recht Fuss fassen können und werde von anderen medizinischen Fachgesellschaften kaum mitgetragen, hiess es in der Medienmitteilung.

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