Marco Hanhart (44) erlebte den Horror mit dem Beruhigungsmittel Benzodiazepin
«Pillen-Entzug ist schlimmer als Alkohol»

Ein Psychotherapeut hat dem alkoholabhängigen Marco Hanhart aus Frauenfeld Benzodiazepin verschrieben. Dabei rutschte Hanhart von einer Sucht in die nächste. Heute befindet er sich in der Entzugsklinik und sagt: «Diese Medikamente machen mir Angst.»
Publiziert: 13.08.2019 um 12:09 Uhr
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Aktualisiert: 13.08.2019 um 15:36 Uhr
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Marco Hanhart aus Frauenfeld erlebte den «Benzo»-Horror.
Foto: Andrea Brunner
Flavio Razzino

Über 700'000 Menschen werden in der Schweiz Beruhigungsmittel verschrieben, die Benzodiazepine enthalten. Medikamente mit extrem hoher Suchtgefahr! Sie wirken auf das Leben von Abhängigen zerstörerisch. Davon berichtete etwa Uschi K.*, die von ihrem Benzodiazepin-süchtigen Mann gar mit dem Tod bedroht wurde. «Wegen dieser Tabletten muss ich mich mit 77 Jahren scheiden lassen», so Uschi K. im BLICK.

Psychotherapeut stellte gleich ein Jahresrezept aus

Auch Marco Hanhart (44) aus Frauenfeld erlebte den «Benzo»-Horror. Um von seiner langjährigen Alkoholsucht loszukommen, hat ihm ein Psychotherapeut vergangenes Jahr die Psychopillen verschrieben. Sie sollten ihn ruhigstellen, wenn er Entzugserscheinungen spürte. Der Psychotherapeut gab ihm dafür aber gleich ein Jahresrezept mit – obwohl Benzodiazepine extrem schnell abhängig machen. «Ich konnte mit diesem Rezept problemlos schachtelweise neue Pillen holen, wenn ich sie brauchte», so Hanhart.

Dabei rutschte er von der einen Sucht in die nächste. «Die Pillen wirkten am Anfang wahre Wunder: Alle Probleme scheinen gelöst, man ist locker drauf und es geht einem gut – doch wenn die Wirkung nachlässt, merkt man: Nichts ist gut!» Irgendwann schreie der Körper förmlich nach den Pillen.

«Mir machen diese Medikamente richtig Angst»

Und dann geht der Horror erst los. «Der Pillenentzug ist noch schlimmer als der Alkohol. Für mich ist es darum unverständlich, dass ein Hausarzt oder ein Psychotherapeut einfach so ein so gefährliches Medikament verschreiben darf», sagt er.

Heute ist der gelernte Informatiker in der Forel-Entzugsklinik in Ellikon an der Thur ZH. Hier versucht er, vom Alkohol und den Pillen wegzukommen. «Mein Hauptproblem ist der Alkohol. Um die Entzugserscheinungen abzumildern, haben sie mir zwar auch hier Benzodiazepine gegeben. Jedoch nur unter strenger Kontrolle und nur wenige Tage lang», sagt Hanhart. Sie hätten die körperlichen Symptome des Alkoholentzugs abgemildert.

Er weiss: Gerade mit seiner Benzo-Vergangenheit hat er Glück gehabt. Wer jahrelang Benzodiazepine konsumiert, kommt davon kaum mehr los. «Mir machen diese Medikamente richtig Angst», sagt Hanhart.

«Benzos» werden zu oft verschrieben

Auch der Berfusverband der Schweizer Ärzte (FMH) ist wegen der vielen Benzodiazepine-Abhängigen alarmiert. «Wir gehen ebenfalls davon aus, dass Benzodiazepine vor allem bei älteren Menschen zu oft verschrieben werden. Sie gehören zu den am meisten verschriebenen Medikamenten, die auf die Psyche einwirken», sagt Yvonne Gilli, Mitglied des Zentralvorstands des Verbandes, zu BLICK.

Der Ärzteverband unterstütze deshalb Sensibilisierungskampagnen für eine differenzierte und korrekte Verschreibung von Benzodiazepinen. Dazu gehört: «Benzodiazepine bei Unruhe und Schlaflosigkeit nicht als Medikamente erster Wahl anzubieten», so Gilli. Und: «Auf die Dosis sowie eine kurze Anwendungsdauer zu achten.» Zudem wolle man die Ärzte «im Rahmen von Fort- und Weiterbildung sensibilisieren». Flavio Razzino

Auch der Berfusverband der Schweizer Ärzte (FMH) ist wegen der vielen Benzodiazepine-Abhängigen alarmiert. «Wir gehen ebenfalls davon aus, dass Benzodiazepine vor allem bei älteren Menschen zu oft verschrieben werden. Sie gehören zu den am meisten verschriebenen Medikamenten, die auf die Psyche einwirken», sagt Yvonne Gilli, Mitglied des Zentralvorstands des Verbandes, zu BLICK.

Der Ärzteverband unterstütze deshalb Sensibilisierungskampagnen für eine differenzierte und korrekte Verschreibung von Benzodiazepinen. Dazu gehört: «Benzodiazepine bei Unruhe und Schlaflosigkeit nicht als Medikamente erster Wahl anzubieten», so Gilli. Und: «Auf die Dosis sowie eine kurze Anwendungsdauer zu achten.» Zudem wolle man die Ärzte «im Rahmen von Fort- und Weiterbildung sensibilisieren». Flavio Razzino

Schlimmer als ein Heroin-Entzug»

Dass eine «Benzo»-Abhängigkeit brutal und der Entzug extrem schwierig sein kann, bestätigt Heike Schwemmer, Chefärztin an der Forel-Entzugsklinik. «Unsere Patienten sagen uns, dass der Benzodiazepin-Entzug wesentlich schlimmer sei als der Entzug von Alkohol oder Heroin.» Denn man könne die Entzugserscheinungen medikamentös kaum abmildern.

«Bei anderen Suchtmitteln kann der Entzug mit Beruhigungsmitteln durchgeführt werden, um die Entzugssymptome abzuschwächen und das Risiko von Entzugssymptomen wie epileptische Anfälle zu minimieren. Anders verläuft es bei einem Entzug von Benzodiazepinen. Hier wird das Mittel schrittweise abgesetzt, eine gezielte medikamentöse Behandlung der Entzugssymptome gibt es aber nicht», so Schwemmer. Die Dauer des Entzugs ist daher deutlich länger als etwa bei einem Alkoholentzug.

«Von der Substanz loszukommen, ist das eine»

Marco Hanhart hat beide geschafft. Doch wird er noch lange in der Entzugsklinik in Ellikon an der Thur bleiben müssen. «Von der Substanz loszukommen, ist das eine, aber nie mehr mit ihr in Kontakt zu kommen, das andere. Ob Alkohol oder Benzos: In der Gesellschaft bekommt einer heute beides beinahe nachgeschmissen.» Hanhart muss nun stark werden, um widerstehen zu können.

*Name geändert

«Der Konsum gerät schnell ausser Kontrolle»

Über 700'000 Menschen in der Schweiz bekommen Benzodiazepine, also Beruhigungsmittel, verschrieben. Die Medikamente werden häufig als Schlafmittel eingesetzt – trotz hoher Suchtgefahr!

Domenic Schnoz, Leiter der Zürcher Fachstelle zur Prävention des Suchtmittelmissbrauchs warnt: «Wir hören immer wieder von Fällen, in denen der Konsum von Benzodiazepinen ausser Kontrolle gerät.»

Aus therapeutischer Sicht seien diese Medikamente unverzichtbar – beispielsweise bei akuten Angststörungen. Als Schlafmittel werden sie aber häufig leichtsinnig verschrieben, vor allem an Senioren. «Der Schlaf verändert sich mit dem Alter. Vielen Senioren ist das nicht bewusst. Sie greifen zu Schlafmitteln, bräuchten sie aber gar nicht», sagt Schnoz.

Problematisch sei der Konsum dann, wenn er länger als vier Wochen andaure. Laut Statistik schlucken rund die Hälfte der Bezüger die Benzodiazepine über längere Zeit hinweg. Diese Menschen sind entweder schon süchtig oder akut suchtgefährdet.

Die Zahlen sind alarmierend, findet der Experte. Schlafstörungen solle man anders angehen. Schnoz rät: «Nach der erwähnten Frist sollte auf eine Therapie mit einem harmloseren Medikament oder auf verhaltenstherapeutische Behandlung umgestiegen werden.» Helena Schmid

Über 700'000 Menschen in der Schweiz bekommen Benzodiazepine, also Beruhigungsmittel, verschrieben. Die Medikamente werden häufig als Schlafmittel eingesetzt – trotz hoher Suchtgefahr!

Domenic Schnoz, Leiter der Zürcher Fachstelle zur Prävention des Suchtmittelmissbrauchs warnt: «Wir hören immer wieder von Fällen, in denen der Konsum von Benzodiazepinen ausser Kontrolle gerät.»

Aus therapeutischer Sicht seien diese Medikamente unverzichtbar – beispielsweise bei akuten Angststörungen. Als Schlafmittel werden sie aber häufig leichtsinnig verschrieben, vor allem an Senioren. «Der Schlaf verändert sich mit dem Alter. Vielen Senioren ist das nicht bewusst. Sie greifen zu Schlafmitteln, bräuchten sie aber gar nicht», sagt Schnoz.

Problematisch sei der Konsum dann, wenn er länger als vier Wochen andaure. Laut Statistik schlucken rund die Hälfte der Bezüger die Benzodiazepine über längere Zeit hinweg. Diese Menschen sind entweder schon süchtig oder akut suchtgefährdet.

Die Zahlen sind alarmierend, findet der Experte. Schlafstörungen solle man anders angehen. Schnoz rät: «Nach der erwähnten Frist sollte auf eine Therapie mit einem harmloseren Medikament oder auf verhaltenstherapeutische Behandlung umgestiegen werden.» Helena Schmid

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